Essen. Alle Themen sind möglich. Aber wann sind, wie bei Tönnies, Grenzen erreicht? Forscher über die Geschichtsvergessenheit mit Blick auf Afrika.
Vom tief verletzten Gerald Asamoah bis zur empörten Bundesjustizministerin: Clemens Tönnies’ abfällige Äußerungen über die Fortpflanzung von Afrikanern haben hohe Wellen geschlagen. Aber zu der Verwunderung über die Äußerung gesellt sich gerade in den sozialen Medien zunehmend Verwunderung über die anhaltende Empörung. An der Spitze der FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki, der Tönnies’ Satz auf Facebook als „notwendigen“ Hinweis auf das „Riesendilemma“ zwischen Bevölkerungswachstum und Weltklimaziele bezeichnete. Und dafür natürlich auch wieder reichlich Kritik erntete.
Dass man in Afrika jährlich nur 20 Kraftwerke finanzieren müsse, damit „die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren“ - ist das tatsächlich nur „drastisch“, wie es Kubicki nennt?
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Was ist rassistisch? Und wo genau ist die Grenze? Für Tahir Della, Sprecher der bundesweit aktiven „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“, liegt sie dort, wo Geschichtsvergessenheit beginnt.
Vorschläge auf Augenhöhe
Für den Aktivisten stecken die Probleme nicht allein ins Tönnies’ Bemerkung über die Fortpflanzung in Afrika, sondern im Vorschlag des Kraftwerksbaus als Entwicklungshilfe. „Darin steckt die Haltung: Wir wissen es besser. Der globale Norden erklärt dem Süden wieder mal, wie er es zu machen hat“, so Della. „Wenn wir Ratschläge für Afrika haben, müssen wir die letzten 500 Jahre im Kopf behalten, in denen wir alle gesellschaftlichen Strukturen dort zerstört haben.“ Della fordert „Vorschläge auf Augenhöhe“ statt „kolonialrassistische und überhebliche“ Bemerkungen, wie sie in seinen Augen von Tönnies gekommen sind.
Jeder Dritte diskriminiert
Laut einer Studie der Europäischen Grundrechte-Agentur sehen sich dunkelhäutige Menschen in Deutschland häufiger mit Gewalt und Herabsetzung konfrontiert als in vielen anderen EU-Staaten.
Jeder dritte Mensch mit afrikanischem Hintergrund demnach in einem Jahr entsprechende Erfahrungen in Deutschland gemacht.
Auch die Duisburger Ungleichheits- und Migrationsforscherin Aylin Karabulut sieht in den Äußerungen des Schalker Aufsichtsratschef kolonialgeschichtliche Vergessenheit. „Tönnies bezieht sich auf die Rassenlehre und Zuschreibungen aus der Kolonialzeit, die schwarze Menschen vereinheitlichen und abwerten“, urteilt Karabulut. Das Problem sei dazu, dass sich die Aussagen in „täglich degradierende und schmerzhafte Rassismuserfahrungen“ einreihen würden, die dunkelhäutige Menschen in Deutschland täglich machen müssten.
Auch für Rassismusforscher Jobst Paul vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung ist klar: Wer auf die demographische Entwicklung vieler afrikanischer Staaten aufmerksam möchte, sollte das nicht tun, indem er alte Stereotype bedient. „In vielen rassistischen Darstellungen kommt das Bild anderer Menschen als Wilde vor, die nur mit dem Körper, nicht mit dem Kopf handeln“, so der Autor des Buches „Der binäre Code: Leitfaden zur Analyse herabsetzender Texte und Aussagen“.
Das Klischee vom Wilden
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Problematisch findet Paul auch das Klischee des Ahnungslosen, der so viele Bäume fällt, dass er sich selbst die Lebensgrundlage entzieht – ebenfalls eine typisch stereotype Darstellung. Die Bevölkerungsentwicklung und Abholzung in Afrika thematisieren zu wollen, ist für den Sozialethiker kein Grund, derartige Stereotype heranzuziehen. Paul: „Man kann über alle Themen reden, sollte das aber nicht mit rassistischen Floskeln tun.“ Viel wichtiger sei es die Frage zu stellen, woher Probleme wie Armut und überlastete Sozialsysteme in manchen afrikanischen Ländern kommen - und welche Verantwortung der Westen für diese Zustände hat.
Auch wenn Tönnies sich bereits mehrfach für seine Äußerungen entschuldigt hat, sie als „schlicht töricht“ bezeichnete, ist Jobst Paul der Ansicht: „Wer so etwas öffentlich sagt, fühlt sich auch im Privaten mit so einer Haltung zu Hause.“ Pauls Hoffnung: „Vielleicht achten nun auch mehr Menschen in ihren privaten Unterhaltungen darauf, ob sie ähnliche rassistische Muster bedienen.“