Bochum. Susanne Holtkotte aus Bochum redet gerne Klartext über Sozialpolitik. Nun hat die Reinigungskraft ein Buch geschrieben: „715 Euro“, ihre Rente.

Dass Susanne Holtkotte aus Bochum eine ist, die sagt, was sie denkt, weiß Deutschland inzwischen: Die Susi, das ist doch die Reinigungskraft aus dem Fernsehen, die dem Minister die Meinung gegeigt und ihn ans Bettenmachen gekriegt hat! Eine, die Klartext redet – und jetzt hat sie ihn auch aufgeschrieben. „715 Euro“ heißt ihr Buch, „Wenn die Rente nicht zum Leben reicht.“

Zum Sterben wird sie übrigens auch nicht reichen, um das vorwegzunehmen, so steht es auf Seite 112, so wie der Stundenlohn von 10,56 Euro nicht genug ist für frische Milch und gerade einen neuen Staubsauger. Und das regt Susanne Holtkotte auf! Nicht ihr eigenes Schicksal, sondern das Wissen, dass sie viele sind in diesem Land, die wenig verdienen, die im Alter arm sein werden und vielleicht Flaschen sammeln.

Weil sie keinen Computer hat, schrieb sie mit der Hand

„Da krich ich de Pimpernellen“, so hat sie das zu Papier gebracht. In vielen Stunden im Schneidersitz auf ihrem Bochumer Sofa, von Hand in ein Notizbuch. Manchmal auch unterwegs, wenn ihr ein guter Gedanke kam, dann auf der Rückseite eines Einkaufsbons, sie hat ja keinen Computer.

Arbeitstag im Bochumer Bergmannsheil: Minister Hubertus Heil (SPD) und Reinigungskraft Susanne Holthotte tauschten für einen Tag den Arbeitsplatz. Zuvor lernte Holtkotte den Politikbetrieb in Berlin kennen.
Arbeitstag im Bochumer Bergmannsheil: Minister Hubertus Heil (SPD) und Reinigungskraft Susanne Holthotte tauschten für einen Tag den Arbeitsplatz. Zuvor lernte Holtkotte den Politikbetrieb in Berlin kennen. © Unbekannt | Julia Tillmann


Eine Wutrede ist es geworden, aber eine mit Substanz, mit Zahlen, Statistiken, Konzepten unterlegt, sie nennt es selbst: „Eine Anklageschrift.“ Angeklagt sind Arbeitgeber, „die sich auf Kosten der Ärmsten bereichern“: „Denkt nicht nur an den Profit, sondern auch an die Menschlichkeit!“ Die Politik, „die viele wie mich in dieses Loch gestoßen hat“: „Macht Gesetze für uns!“ Aber auch die Bürger kriegen ihr Fett weg: „Macht den Mund auf!“ Es geht um Rente, faire Löhne, Umverteilung.

Sie zeigte dem Minister, wie man Betten macht

Jemand hat das alles abgetippt, und jetzt gibt es dieses Buch. Von Susanne Holtkotte, 49, die sonst im Krankenhaus Betten putzt. „Krass“, sagt sie selbst. Noch krasser als die Auftritte im Rundfunk, noch krasser als die Begegnung mit „Hubi“ Hubertus Heil von der SPD, mit dem sie für je einen Tag den Job getauscht hat: „Der Arbeitsminister stellt sich mit der Putze hin.“ Warum sie? „Weil sich vorher noch keiner so darüber geärgert hat.“ Obwohl, nein, das weiß Holtkotte besser, sie kennt so viele, die sich ärgern. „Aber vielleicht musste man erst jemanden finden, der sich so auszieht. Der sagt, was man mit so wenig Geld machen kann und was nicht.“

Wenn sie etwas „Scheiße“ oder gar „Kacke“ findet, sagt sie das auch

Und sicher war es auch so: Susanne Holtkotte, die Gewerkschafterin, das schreibt sie mit einiger Bitterkeit selbst, weicht ab vom Vorurteil der „grenzdebilen, verzweifelten Putzfrauen, die sich … nicht artikulieren können“. Die Bochumerin kann reden, und zwar plastisch. Wenn sie irgendwas „Scheiße“ findet, sagt sie das auch, genau so. Und dass sie sich „verarscht“ fühlt. Im Gespräch klingt das dann so, die mit Blümchen tätowierten Arme sind wie ihre Zunge immer in Bewegung: „Ich war immer ein Mensch, der die Fresse nicht halten konnte. Ungerechtigkeit fand ich als Kind schon kacke.“ Im Buch steht: „Da krampft sich mein Herz zusammen, das macht mich maßlos wütend.“

Nun ist es nicht so, dass Holtkotte bloß schimpft, sie hat konkrete Vorschläge. Die Grundrente findet sie gut, das System in den Niederlanden auch, die Beitragsbemessungsgrenze nicht. Sie will, dass das Gegeneinander-Ausspielen aufhört, Jung gegen Alt, Frau gegen Mann, Arm gegen Reich. „Alle sollen einzahlen, dann haben auch alle Anspruch.“ Oder man nimmt den Solidaritätszuschlag für die Rente, „das wäre mal solidarisch“.

Nachrichten im Fernsehen und gesunder Menschenverstand

Sie kann das alles begründen, analysiert das Rentensystem und seine Geschichte, Bismarck, Riester, Rürup kommen vor. Woher hat sie dieses Wissen? Da schaut sie ein bisschen empört: „Das weiß man doch alles.“ Der Finger geht zum Fernseher. „Ich gucke ja Nachrichten.“ Und außerdem: Es ist alles ihr „normaler Menschenverstand“.

Mit Katze auf dem heimischen Sofa in Bochum-Gerthe: Susanne Holtkotte nach Feierabend.
Mit Katze auf dem heimischen Sofa in Bochum-Gerthe: Susanne Holtkotte nach Feierabend. © Unbekannt | Ingo Otto


Seit sie ein bisschen berühmt ist, gibt es Menschen, die sagen: „Hättste was Vernünftiges gelernt.“ Das hört sie jetzt oft, hört aber weg. Susanne Holtkotte hat nach der Hauptschule immer gearbeitet, im Einzelhandel, als Marktschreierin, was man sich gut vorstellen kann. Und sie will es auch weiter tun. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie Altenpflegehelferin, versorgte einen Wachkomapatienten. Bis die Bandscheibe nicht mehr mitmachte.

Die Arbeit ist wertvoll, aber schlecht bezahlt

Das Bettenreinigen im Krankenhaus ist nicht viel leichter, aber die Verantwortung wiegt nicht so schwer, im wahren Wortsinn: „Mit Menschen muss ich behutsamer sein, die darf ich ja nicht fallen lassen.“ Behutsam ist sie trotzdem, das sagt sie auch den Neuen in ihrem Team: „Du musst immer vor Augen haben, du lägst selbst in diesem Bett.“

Die 49-Jährige weiß, dass ihre Arbeit wertvoll ist, wenn auch nicht finanziell. „Wenn alle Reinigungskräfte den Lappen hinlegen, läuft nichts mehr.“

Auch Minister Heil hat das schließlich gesagt: Menschen wie sie hielten das Land am Laufen. Warum also tut die Politik dann nicht mehr für sie? Warum streitet sie? Susanne Holtkotte könnte sich schon wieder aufregen: „Sind die bekloppt oder was? Es geht um die Zukunft von Zigtausenden Bürgern.“ Manchmal wünscht sich selbst diese Frau etwas Ruhe. In einem Knusperhäuschen, mit einer Wiese. „Mit zwei Gänsen, drei Hühnern und einer Ente, die nicht in den Topf kommt.“ Aber hey: „Ich hab die Möglichkeit gekriegt, ein Buch zu schreiben. Was willste denn mehr? Ich bin dankbar, dass ich mich mal auskotzen konnte.“