Lügde. Am Donnerstag startet der Missbrauchs-Prozess von Lügde. Ein Anwalt der Nebenklage erzählt, warum ihn dieser Fall so wütend macht.
Er macht das nicht erst seit gestern. Roman von Alvensleben ist seit vielen Jahren Strafverteidiger. Hat Schwerverbrecher verteidigt, hat Opfer vor Gericht vertreten und hat in beiden Fällen dabei oft tief in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt. „Aber so etwas wie Lügde“, sagt er, „das habe ich noch nicht erlebt.“
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Ab Donnerstag sitzt er als Nebenkläger im Saal 165 des Landgerichtes in Detmold und vertritt dort die achtjährige Jana (Name geändert), eines der Opfer. Am Wochenende hat er noch einmal die Akten gelesen. „Schwer zu ertragen“ seien sie, sagt von Alvensleben. „Da kann man anfangen zu heulen. Vor allem, wenn man selber Kinder hat.“
Anklage konzentriert sich auf das, was sich beweisen lässt
Und man wird wütend, sagt er. Vor allem auf Andreas V., den mutmaßlichen Haupttäter. Der, den sie gerne „Onkel Addy“ nannten. Weil er so einen netten Eindruck machte. Der, zu dem die Kinder so gerne kamen. Weil er immer Süßigkeiten hatte und Spielzeug. Und weil er so viel unternahm mit den Jungen und Mädchen auf dem Campingplatz „Eichwald“ am Rande der Gemeinde Lügde-Ebrinxen. Doch in der Nacht, da soll aus dem lieben Addy ein Monster geworden sein
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Vor gut 30 Jahren ist der heute 56-Jährige mit seinen Eltern aus Duisburg hierhin gezogen. Und er bleibt auch, als seine Eltern längst tot sind. Weil der kaum einsehbare, heruntergekommene Wohnwagen anscheinend ein idealer Platz ist, um seine kranken Fantasien auszuleben. 298 Straftaten wirft die Anklageschrift ihm vor. 23 Mädchen – einige noch kleine Kinder – sollen über viele Jahre Opfer seiner Quälereien geworden sein.
Neben V. steht auch Mario S. vor Gericht. 34 Jahre alt, Hilfsarbeiter und ebenfalls Besitzer einer Behausung auf dem Campingplatz. Anfangs hielten ihn die Ermittler noch für einen Mitläufer, mittlerweile werfen sie ihm vor, 17 Kinder missbraucht haben. Wahrscheinlich gibt es in beiden Fällen weitere Opfer, gibt es viel mehr Taten, aber die Staatsanwaltschaft hat schon früh entschieden, sich auf das zu konzentrieren, was sich auch beweisen lässt. Für von Alvensleben aus juristischer Sicht kein Problem: „Für die Höhe der Strafe ist das unerheblich.“
Eltern konnten nicht glauben, was sie hörten
Was V. und S. mit ihren Opfern gemacht haben? „Alles, was sie sich an Widerlichkeiten im Rahmen eines schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes vorstellen können“, sagt Strafverteidiger Peter Wüller, der ebenfalls mehrere Mandanten im jetzt beginnenden Prozess vertritt. Auch von Alvensleben will keine Einzelheiten nennen. „Aber“, sagt er auf Andreas V. bezogen, „zum ersten Mal könnte ich in einem Plädoyer ausfallend werden“.
Es sind aber nicht nur Täter und Taten, die den Strafverteidiger aus Hameln wütend machen, es sind auch die Umstände, die es den Angeklagten ermöglicht haben, ihre Opfer so lange und so oft zu missbrauchen. „Es gab ja Hinweise“, sagt er. Aber es gab anscheinend auch Behörden, die geschlampt haben, Eltern, die nicht glauben wollten, was ihre Kinder ihnen erzählten. Und Kinder, die sich irgendwann nicht mehr trauten, überhaupt noch etwas zu erzählen, von dem, was ihnen auf dem Campingplatz widerfahren war.
Hinweise missachtet – Verdächtiger bekam sogar Pflegetochter
„Das ganze System hat nicht funktioniert“, ärgert sich der Jurist und spricht von „fehlendem Informationsfluss“ und mangelnder Vernetzung der Behörden, beginnend beim Jugendamt und endend bei der Polizei. „Wenn der eine Andreas V. ins System eingibt, müsste beim anderen schon automatisiert die rote Lampe aufleuchten.“ Tut es aber nicht. Stattdessen bekommt V. sogar noch eine kleine Pflegetochter zugesprochen. „Unfassbar“ findet das von Alvensleben bis heute.
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Dieses Kind, das nach den bisherigen Ermittlungen immer wieder missbraucht wurde, erhält im letzten August Besuch von der Mandantin des Anwalts. Die Mädchen haben sich auf einem Kindergeburtstag angefreundet, jetzt schaut Jana auf dem Campingplatz vorbei. Und auch von ihr, so die Anklage, kann V. seine Finger nicht lassen. Der Mann habe ihr weh getan, berichtet das Kind seiner alleinerziehenden Mutter unter Tränen. Die ruft bei V. an, der gibt den Missbrauch angeblich sogar zu. „Sie wollte das“, soll er in dem Telefonat gesagt haben.
Manche Kinder mussten mehrfach aussagen
Dennoch zögert die Frau wochenlang, damit zur Polizei zu gehen. „Sie hatte Angst“, sagt der Anwalt. Vor allem um ihre Tochter. V. habe ihr gedroht, weiß der Anwalt, habe gesagt, er wisse viel über das Kind. Erst im Oktober fasst sich die Mutter ein Herz und erstattet Anzeige. Bis ihre Tochter angehört wird, vergehen allerdings noch einmal Wochen. Und selbst nach ihrer Aussage dauert es noch gut einen Monat, bis das Jugendamt V. seine Pflegetochter wegnimmt, er selbst verhaftet wird.
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Doch auch dann ist der Alptraum für viele seiner Opfer nicht vorüber. „Die Zeugenvernehmungen liefen am Anfang gar nicht gut“, bestätigt von Alvensleben und erklärt auch warum. „Man kann ein Kind nicht einfach an den Tisch setzen, mit einer Lampe anstrahlen und dann von zwei Beamten befragen lassen, die möglicherweise sogar noch Uniform tragen“ Man sei schließlich nicht beim TV-Tatort. „Das verunsichert das Kind nur.“ Vor allem, wenn – wie hier in mehreren Fällen geschehen – es nicht bei einer Vernehmung bleibt, sondern manche Kinder bis zu fünf Mal aussagen müssen. „Irgendwann denkt das Kind doch, man glaubt ihm nicht.“
„Das hätte alles nicht passieren müssen“
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„Bei jeder Vernehmung schickt man die Opfer wieder in die Hölle zurück“, bestätigen Psychiater, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Dabei seien viele Kinder schon durch die Taten selbst traumatisiert – manchmal für den Rest ihres Lebens.
Deshalb hofft von Alvensleben auch, dass V. und S. ihr bisheriges Schweigen brechen, im Prozess ein umfassendes Geständnis ablegen und den Opfern so eine weitere Aussage ersparen. Und er hofft, dass „man aus Lügde etwas lernt für die Zukunft“. Dass man sensibler reagiert und schneller handelt. Bei der Polizei, bei den Jugendämtern auch in betroffenen Familien. „Was hier passiert ist“, sagt von Alvensleben, „das hätte alles nicht passieren müssen.“