Dortmund. Jeder zweite Patient in der Geriatrie ist mangelernährt. In einer Dortmunder Klinik sind es sogar drei von vieren. Ihr Chefarzt tut was dagegen.
Theokli Zachariadis ist ein charmante, feine alte Dame. Lächelnd sitzt sie in ihrem Krankenbett und erzählt, dass sie sich von ihrer OP recht gut erholt habe. Das Haar ist frisch frisiert und der Schlafanzug, den sie trägt, très chic – bloß zu groß. Viel zu groß. Er schlabbert um die 1,52 Meter kleine Person herum. Früher habe er ihr mal gepasst, erzählt die 72-Jährige und seufzt: „Ein paar Pfund müssen wohl wieder drauf.“
24 Kilo Gewicht hat Theokli Zachariadis abgenommen. Ein Tumor hat sie die Hälfte ihrer Zunge gekostet, der Krebs ihr den Appetit genommen und die Chemotherapie ihr den Geschmack verdorben. „Essen hat in den letzten Wochen weder geschmeckt noch funktioniert“, berichtet die Patientin. In der Geriatrie des Dortmunder Klinikums kümmert man sich derzeit um ihre Genesung – und um ihre Mangelernährung.
71,2 Prozent mangelernährt? „Dagegen muss man was tun!“
Jeder vierte Patient in einem deutschen Krankenhaus ist krankheitsbedingt mangelernährt. Zahlreiche Studien belegen das. In der Geriatrie liegt die Quote sogar noch höher, bei über 50 Prozent. In der Dortmunder Klinik für Geriatrie lag sie in den ersten fünf Monaten dieses Jahres: sogar bei 71,2 Prozent. Klinikdirektor Dr. Thomas Reinbold weiß das so genau, weil er Anfang des Jahres fürs ganze Haus ein Ernährungsscreening einführte: Jeder Patient, der in der Geriatrie (Altersheilkunde) stationär aufgenommen wird, wird auf etwaige Mangelzustände untersucht. Denn: „Dagegen muss und dagegen kann man was tun“, meint der 47-jährige Ernährungsmediziner, der auch Internist, Gastroenterologe und Diabetologe ist.
Nicht alle Mediziner denken so. Erst 2020 wird es eine offizielle Zusatzweiterbildung der Ärztekammer zum Ernährungsmediziner geben; nur drei Prozent aller Kliniken in Deutschland haben überhaupt ein Ernährungsteam. Dortmund allerdings leistet sich gleich zwei: eines für die Geriatrie, eines für alle anderen Fachabteilungen des 1422-Betten-Hauses. Neben Reinbold gehören in der Klinik für Geriatrie (74 Bettten plus Ambulanz) ein weiterer Ernährungsmediziner, drei Logopäden und eine Diätassistentin zum Experten-Trupp. Gibt es bei der Aufnahmeuntersuchung einen „Anfangsverdacht“ auf Mangelernährung, wird sofort ein komplexes, ganzheitliches „Assessmentverfahren“ eingeleitet, der betroffene Patient – und das waren bis Mai fast 500, fast drei von vieren! -- komplett auf den Kopf gestellt.
Bei Anfangsverdacht auf Mangelernährung folgt ein ganzheitliches Assessmentverfahren
Die Spezialisten des Hause vermessen und wiegen ihn, überprüfen mittels einer „bioelektrischen Impedenzanalyse“ (BIA) Fett-, Wasser- und Muskelanteile im Körper. Sie bestimmen die Tiefe der Hautfalten am Unterarm und die Kraft des Handdrucks; sie gucken, ob die Prothese richtig sitzt, vielleicht Zähne im Mund verfault sind. Sie fragen nach Ernährungsgewohnheiten und Schluckbeschwerden, ordnen gegebenenfalls eine FEES an, eine endoskopische Schluck-Untersuchung. Sie testen kognitive Fähigkeiten und suchen nach Hinweisen auf eine Depression. „Wir schauen auf den ganzen Patienten, auf alles, was wichtig sein könnte“, erklärt Klinikchef Reinbold. All das, natürlich, zusätzlich zur normalen Therapie der Probleme, die den alten Menschen in die Geriatrie brachte: Hirnblutung, Schlaganfall, Oberschenkelhalsbruch, Herzinfarkt oder Lungenentzündung etwa. Das Dortmunder Klinikum ist ein Haus der „Maximalversorgung“: „Bei uns landen Schwerstkranke“, sagt Reinbold.
Nach der Entlassung fangen die Probleme oft erst richtig an: das Ernährungsteam der Klinik hilft
Ist das Screening abgeschlossen, erstellt das Ernährungsteam für den Betroffenen einen individuelle Ernährungsplan, spricht ihn mit dem Patienten oder/und seinen Angehörigen ab. Sondennahrung oder gar parenterale Ernährung (über die Vene) ist dabei der allerletzte Ausweg. „Wenn irgend möglich, soll der Patient normale Kost bekommen“, erklärt Reinbold, „ angereichert mit Kalorien“. Das könne dann der Sahne-Joghurt anstelle des Magermilchprodukts sein, oder Saftschorle statt Wasser, und bei Patienten mit Schluckbeschwerden helfe oft schon, Saucen oder Getränke anzudicken. Fast alle Patienten, so der Chefarzt, bekämen zudem als Zusatzkost eiweißreiche Spezialdrinks zwischen den Mahlzeiten.
Mit der Entlassung endet der Einsatz des Ernährungsteams übrigens nicht. Denn gerade dann begännen bei vielen erst recht die Probleme. Die Dortmunder Geriatrie entwickelte „Überleitungsbögen“ in denen detailliert aufgelistet ist, was der Patient benötigt. „Wir gehen aktiv auf Hausärzte, Pflegedienste, Heime und Überleitungsunternehmen zu“, betont Reinbold. Er beobachte allerdings mit großer Besorgnis, räumt der Arzt ein, „eine zunehmende soziale Armut im Revier.“ Sein jüngster Fall: ein Rentner, 78, dem er Trinknahrung für Zuhause empfohlen hatte. Der Hausarzt wollte sie nicht verschreiben. „Zwei, drei Euro für ein Fläschen konnte sich der Mann aber nicht leisten“, erzählt Reinbold.
Die Folgen von Mangelernährung sind schwer, manchmal lebensbedrohlich
Apropos Kosten: Bedeutet das Ernährungsscreening, das Reinbold einführte, nicht auch enorme Mehrkosten für die Klinik? „Sicher“, sagt der Arzt. „Aber uns geht es hier um die Patienten, denen wir Gutes tun wollen.“ Denn die Folgen von Mangelernährung seien erschreckend, nicht selten lebensbedrohlich: Lunge und Herz würden leiden, die Wundheilung sei verzögert, das Immunsystem gestört. Es könne zu Durchfällen und Muskelschwund kommen, Flüssigkeitsmangel leicht zu schwerer Verwirrtheit führen. „Die Gebrechlichkeit, steigt; die Komplikationsrate nimmt exorbitant zu.“ Und damit die Verweildauer im Krankenhaus! Mangelernährte Patienten seien länger (und häufiger) im Krankenhaus, bewiesen Studien. „Und so gesehen“, sagt Reinbold, „spart das Screening eigentlich sogar Kosten!“
So sieht gesunde Ernährung im Alter aus
Die beste Prophylaxe, den größten Anti-Aging-Effekt habe körperliche Aktivität, sagt Dr. Thomas Reinbold.
Was die Ernährung angehe, sollten alte Menschen vor allem auf ausreichende, eiweißreiche Kost setzen. Sie bräuchten mehr Protein als junge; etwa 1 bis 1,2 Gramm pro Kilo Körpergewicht. Wichtig sind auch Vitamin D und Kalzium.
Konkret heißt das: viel Obst, Gemüse und Nüsse; ein bis zwei Portionen Fisch oder (helles) Fleisch pro Woche, viel Quark und Käse – gern auch angereicherte Joghurts (Sportlerdrinks).
Nicht vergessen: 1 bis 1,5 Liter Flüssigkeit am Tag!
In 125 Milliliter Trinkjoghurt stecken 300 Kalorien, zwölf Gramm Protein und vier Gramm Ballaststoffe
Theokli Zachariadis, die kleine Dame mit dem großen Pyjama, liebt ihre neue Päppel-Diät. Zusätzlich zur Normalkost erhält sie dreimal täglich ein kleines Pinnchen einer hochkalorischen Suspension und dazu „voll bilanzierte Trinknahrung“: In deren 125 Milliliter Flüssigkeit stecken satte 300 Kilokalorien, zwölf Gramm Protein und vier Gramm Ballaststoffe. Gut gekühlt, so Zachariadis, schmeckten die kleinen Fläschen richtig lecker. Sie werden unterschiedlichen Geschmacksrichtungen angeboten. „Vanille ist am besten!“
>>>> Ursachen und Symptome einer Mangelernährung
Die Ursachen einer Mangelernährung sind vielfältig, u.a. sind es die folgenden:
– Wer krank ist, verliert schnell den Appetit. Auch Ängste und Depressionen beeinflussen den Appetit.
– Manche Medikamente haben Nebenwirkungen, die Hungergefühl oder Geschmack beeinflussen. Sie verursachen vielleicht Übelkeit, können auch den Mund austrocknen lassen oder - wie etwa Kortisonspray - die Pilzbildung in der Mundhöhle begünstigen.
– Kaputte Zähne oder schlecht sitzende Prothesen erschweren das Schlucken.
– Allein lebende Senioren mit Demenz vergessen das Essen gelegentlich einfach. Einsamkeit und Trauer verringern womöglich den Appetit. Körperliche Einschränkungen (nach einem Schlaganfall oder bei neurologischen Erkrankungen wie Parkinson) erschweren womöglich Einkauf und Zubereitung der Mahlzeiten.
Auch die Symptome können mannigfaltig sein, u.a.:
– Kopfschmerzen
– Müdigkeit
– Schwäche
– Gewichtsverlust (aber auch mit einem BMI von 40 kann ein Mensch mangelernährt sein)
– Verwirrtheit (typisch für Flüssigkeitsmangel)
– Infektanfälligkeit
– gestörte Wundheilung