Marl. . Die Stadtmitte funktioniert nicht mehr. Sie entstand in den 60er-Jahren auf der grünen Wiese. Manche Gäste erkennen sie nicht einmal als Mitte.

Andrea Baudek hat so eine Art, darzustellen, wie jemand reagiert, wenn er das erste Mal mitten in der Stadtmitte von Marl steht. Sie imitiert dann jemanden, der sich suchend und leicht verwirrt umschaut; und sie zitiert den typischen Besucher mit Sätzen wie „Das ist ja mal ganz anders“ oder gar „Wo ist denn hier die Stadtmitte?“ Tja. Das ist das Problem.

Es ist einer dieser Tage, an denen der graue Himmel nicht weiß, ob er noch aufreißen will; und einige hundert Marler Familien, die sich beim Bürgerfest in der – wie alle sagen – Stadtmitte umschauen, wissen ebensowenig: Wollen sie Baudek, die Baudezernentin, tatsächlich löchern in Sachen Neues Marl? Oder lieber dem Lockruf der Hüpfburg folgen?

„Das ist ein ganz großes Rad, woran wir hier drehen“

Bürgermeister Werner Arndt
Bürgermeister Werner Arndt © Ralf Rottmann

Am Ende finden sich doch noch vielleicht 30 Menschen bei ihr ein im Stadtteilbüro, wo an allen Seiten bis auf Fenster und Tür in jeder Hinsicht große Pläne hängen. Denn Marls oft ungeliebte Mitte soll komplett umgekrempelt werden. Bürgermeister Werner Arndt (SPD) nennt es schlicht „schon die zweite oder dritte Neuerfindung. Das ist ein ganz großes Rad, woran wir hier drehen.“

Die Erfindung begann in den 60er-Jahren: Die verstreuten Dörfer am Nordrand des Ruhrgebiets, zusammengehalten durch Bergwerk, Chemieindustrie und den gemeinsamen Namen Marl, bekamen eine neue Mitte auf die grünen Wiese gesetzt. Wie man in den 60er Jahren so baute: unverblendeter Beton, Hochhäuser, grau, gewaltig – ein bisschen wie Plattenbau ohne Platten. Architektonisch gilt manches als bedeutsam, als sehr bedeutsam sogar, aber schön ist es nicht. Und nicht durchmischt: Praktisch alle Geschäfte sind im Einkaufszentrum.

„Das war eine solche Euphorie des Aufbaus“

Jetzt, 50 Jahre später, wird zur nächsten Reparatur angesetzt: mehr Menschen in die Stadt zu holen, mehr Menschlichkeit auch. Ein Café wäre nett, ein einziger Punkt auf dem riesigen Creiler Platz, wo man einen Kaffee bekommt. Und die eine Eisdiele im Einkaufszentrum Marler Stern „ist sonntags zu“, behauptet Bärbel Leffin-Arlt. Das regt sie auf.

Ganz Marl baut. Der Marler Stern bekommt eine neue Fassade. Der Investor hat den Besuchern des Bürgerfestes Sand zur Verfügung gestellt.
Ganz Marl baut. Der Marler Stern bekommt eine neue Fassade. Der Investor hat den Besuchern des Bürgerfestes Sand zur Verfügung gestellt. © Ralf Rottmann

Sie ist eine echte Marlerin aus dem Vorort Drewer: „Mein Vater war auf Zeche, da wohnte man da.“ Geboren 1956, ist sie gleichsam mit der Innenstadt groß geworden. „Das war eine solche Euphorie des Aufbaus“, erinnert sie sich: „Der Marler Stern war ein Magnet, man konnte alles bekommen“ – und sie arbeitete dort auf der Eröffnung als Hostess. Heute fehle der Stadtmitte jedes Flair, „wir liegen am Boden und müssen es wieder aufbauen“, sagt sie und beschreibt, wie „begeistert“ sie ist über die erste Baustelle: „Weil sich was tut.“

Investition von über 100 Millionen Euro

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28.08.2015 Marl. Ein Rundgang durch und um das Rathaus in Marl. 1960 erfolgte die Grundsteinlegung. veralterte Technik und rieselnder Beton bereiten Sorgen. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services
Von Hubert Wolf und die Stadtredaktionen

Um die Größenordnung ganz klar zu machen: Der Creiler Platz wird umgebaut. Für den trüben Marler Stern zur Rechten gibt es einen Investor, der 30 bis 40 Millionen Euro aufbringt. Das Skulpturenmuseum und die Bücherei zur Linken müssen ausziehen in ein neues Kulturzentrum. Das Rathaus da vorn soll für 70 Millionen Euro saniert werden.

Das frühere Hallenbadgelände wird wohnbebaut. Ein neuer Park entsteht auch noch. Das alles, schreibt sogar das eigene Stadtmagazin ,Marl erleben’, vielleicht ungewollt vernichtend, um „die Vision einer zukunftsfähigen Stadtmitte . . . Wirklichkeit werden zu lassen“. Nur im Rücken ist Ruhe, aber da schwappt ja auch ein kleiner See.

Standesamt und Bürgerbüro sind bereits verlegt

Das Einkaufszentrum kämpft srit Jahren mit Problemen.
Das Einkaufszentrum kämpft srit Jahren mit Problemen. © Ralf Rottmann

Der Umzug des Rathauses hat bereits begonnen, Schilder und Bauzäune vor dem Eingang bezeugen es. Standesamt und Bürgerbüro sind jetzt im Marler Stern, wo sonst; andere Ämter mit weniger Laufkundschaft werden weiter draußen das frühere Zechengelände „Auguste Victoria 3/7“ beziehen.

Allein für die umstrittene Sanierung des Rathauses hofft Marl auf 20 Millionen Euro Förderung von Land und Bund. Man muss dazu viele Anträge stellen, Fragen beantworten, Begründungen schreiben. „Wie Steuererklärung“, sagt Baudek, die Dezernentin: „Es nervt, aber es kommt meistens etwas dabei heraus.“ Im besten Fall: dass Fremde in der Stadtmitte nicht mehr fragen, wo es eigentlich zur Stadtmitte geht. Obwohl Baudeks Imitation richtig gut ist.