Detmold. .

Mit der Befragung eines Auschwitz-Überlebenden hat gestern in Detmold der Prozess gegen einen früheren SS-Mann begonnen. Dem 94-jährigen Angeklagten aus dem lippischen Lage wirft die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord im NS-Vernichtungslager Auschwitz in mindestens 170 000 Fällen vor. Insgesamt sind bis zum 20. Mai zwölf Verhandlungstermine angesetzt.

Der 94-jährige Zeuge Leon Schwarzbaum richtete an den gleichaltrigen Angeklagten den eindringlichen Appell: „Wir beide stehen bald vor dem höchsten Richter.“ Deshalb bitte er den Angeklagten, zu erzählen, „was Sie getan und erlebt haben“. In dem Verfahren treten rund 40 Holocaust-Überlebende und deren Nachfahren aus dem In- und Ausland als Nebenkläger auf.

Demjanjuk-Prozess war die Wende

Dass Verfahren auch gegen Mittäter in der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten heute möglich sind, liegt an einer Neubewertung der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Auslöser war der Prozess gegen den früheren KZ-Wärter Iwan Demjanjuk in München. Demjanjuk war 2011 wegen Beihilfe zum Mord in 20 000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Obwohl das Urteil nie rechtskräftig wurde, weil Demjanjuk noch vor Beendigung des Verfahrens starb, gilt es als Wende in der Rechtsprechung gegen NS-Täter. Anders als früher gelten seitdem Verfahren auch ge­gen KZ-Auf­seher als aussichtsreich, selbst wenn diesen keine direkte Tatbeteiligung mehr nachgewiesen werden kann.

Eine neue Schieflage

Das schafft nach Einschätzung des Bochumer Historikers Constantin Goschler aber zugleich eine neue Schieflage. Vorher seien viele Menschen laufengelassen worden, die höher in der Hierarchie standen, und denen mehr vorgeworfen werden könne, sagte der Forscher der Ruhr-Uni. „Jetzt erwischen wir die letzten, die damals noch ganz jung waren“, so Goschler. „Das ist wieder eine Art von Schieflage, aus der wir aber nicht herauskommen werden.“ 2015 war Oskar Gröning, der „Buchhalter von Auschwitz“ in Lüneburg zu vier Jahren Haft verurteilt worden.