Essen. . In NRW sind Hochzeitskorsos mehrfach eskaliert. Ein Migrationsforscher erklärt, warum sich die Vorfälle auch in Zukunft weiter häufen werden.

Ein Konvoi, der eine Autobahn blockiert, um Hochzeitsfotos zu machen. Eine Hochzeitsgesellschaft, die mit Schreckschusspistolen schießt und Feuerwerkskörper zündet. In letzter Zeit häufen sich Meldungen von Hochzeitsfeiern, die über die Stränge schlagen. Allein um die 100 Mal musste die Polizei in NRW in den letzten drei Wochen ausrücken. Das Innenministerium spricht hier explizit von „Feiernden mit Migrationshintergrund“ und will herauszufinden, ob es sich bei den Aktionen um ein „neues Phänomen handelt“.

Nach Einschätzung des Migrationsforschers Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba ist das Phänomen jedoch keineswegs neu. Die Gesellschaft schenke den Vorkommnissen allerdings so viel Aufmerksamkeit, da sie „uns fremd und auffällig erscheinen, weil die Teilnehmer Muslime sind“.

Rolle der Medien spielt eine zentrale Rolle

Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba ist der ehemalige Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung
Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba ist der ehemalige Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung © dpa

So sind beispielsweise „Schüsse und Platzpatronen keine türkische und arabische Spezialität. Auch westfälische Schützenvereine schießen bei einer Geburtstagsfeier mal in die Luft oder Leute blockieren am Vatertag auch die Straßen. Allerdings wird darüber kaum berichtet“, sagt Kaschuba.

Darin sieht der Migrationsforscher einen weiteren entscheidenden Faktor: die Rolle der Medien und der sozialen Netzwerke. Da Medien vermehrt über Hochzeitskonvois berichten, würde dies Nachahmer hervorrufen.

„Wir sind eine Selfie-Gesellschaft, die ihr Privatleben gerne öffentlich inszeniert. Die Jungs finden das prima, wenn sie in WhatsApp Gruppen für ihre Selfies Anerkennung bekommen oder sogar von sich behaupten können ‚Wie waren in der Tagesschau‘ – wer kann das schließlich von sich sagen?“

Mit Brauchtum haben Eskapaden wenig zu tun

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Da hinein spiele auch, dass Hochzeiten immer mehr den Regeln eines Events folgen würden. So würde eine große Feier als Ausnahmezustand gesehen und dafür benutzt, um eine ausufernde Party moralisch zu legitimieren, sagt Kaschuba: „Je größer dann die Gesellschaft ist, umso mehr ist es ein gutes moralisches und kulturelles Argument dafür, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Und wenn dann die Polizei kommt, kann man mit klimpernden Augen sagen, dass das doch nur eine Hochzeit ist.“

So würden junge Männer die eskalierenden Hochzeitsfeiern dann auch mit Tradition zu legitimieren versuchen. Mit Brauchtum haben die Eskapaden laut Kaschuba aber wenig zu tun. Schließlich käme die Ideen nicht vom Brautvater oder der älteren Generationen, sondern von den jungen Männern, die Folklore für ihre Inszenierungszwecke nutzen.

„Es ist also mehr ein Generationenmuster als ein ethisches Herkunftsmuster. Die Leute basteln sich heutzutage ihre eigene Tradition zusammen. Denn es sind Jungs, die in Oberhausen oder Dortmund geboren sind, die jede Gelegenheit nutzen, um sich zu inszenieren. Es sind nicht die frisch Zugewanderten“, sagt Kaschuba.

Auch ‘Bio-Deutsche’ werden das bald nachmachen

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Aufgrund der Entwicklung, dass das Private immer mehr in den öffentlichen Raum rückt und sich Kulturen in den Städten immer mehr vermischen, geht Kaschuba davon aus, dass Vorfälle mit Hochzeitsgesellschaften auch in Zukunft weiter zunehmen werden. „Es wird sicher auch bald ‚Bio-Deutsche‘, Ruhrgebietsjugendliche oder Frauen-Cliquen geben, die nachziehen und das nachmachen werden.“ Er ist daher der Überzeugung, dass die Gesellschaft lernen müsse, „dass Andere auch etwas lauter sind.“

Gesetzlosigkeit und eine Gefährdung anderer sei da natürlich ausgenommen. Helfen könne aber „eine Politik der Verhandlung, die beim nächsten Mal klar macht: Der nächste verursachte Autobahnstau wird sehr, sehr teuer.“