Düsseldorf. . Im Prozess um die Loveparade von Duisburg sagt der Gesamtleiter (heute 47) aus. Als Angeklagter durfte er schweigen, als Zeuge muss er reden.

Von der letzten in die erste Reihe, vom stillen Beobachter zum eloquenten Redner: Drei Monate, nachdem das Strafverfahren gegen ihn eingestellt wurde, ist der erste Ex-Angeklagte am Freitag als Zeuge in den Loveparade-Prozess zurückgekehrt. Ein Jahr lang hatte er es vorgezogen zu schweigen – nun muss er reden. Und der damalige Gesamtleiter der Technoparty redet: Sein freier Vortrag dauert mehr als zwei Stunden, insgesamt sind für seine Aussage drei Verhandlungstage angesetzt.

„Sie haben das ja oft genug mitgemacht“, sagt der Vorsitzende Mario Plein zur Begrüßung. Doch ist es diesmal anders, für alle: „In gewisser Weise“, sagt Plein, „sind Sie eine neue Informationsquelle für uns.“ Aber eine, die mehr weiß als andere Zeugen. „Unfassbar viele Daten und Zahlen“ habe er im Kopf, sagt der heute 47-Jährige, er habe „Nacharbeit geleistet“, schon 2010 mit der Veranstalterfirma Lopavent, er kennt die Akte. Andere, die hier seit Dezember 2017 ihre Aussage machten, durften vorher am Prozess nicht teilnehmen; dieser Mann war jeden Tag da. „Die Informationen vermischen sich“, sagt er entschuldigend (was manche Prozessbeteiligte besser finden als die großen schwarzen Löcher in der Erinnerung vieler Vorgänger im Zeugenstand).

Aus der letzten Reihe in die erste vorgerückt

Wenn man sich überhaupt verstecken konnte im Düsseldorf Congress Center, das dem Duisburger Landgericht als Saal dient, dann war seiner bislang der Platz dafür: Ganz hinten und ganz außen in den Reihen der zehn Angeklagten und ihrer mehr als 30 Verteidiger hatte man dem 47-Jährigen einen Stuhl zugewiesen. Selten schaute er von dort auf, las viel in seinem Laptop und sprach allenfalls mit seinen Anwältinnen, 101 Verhandlungstage lang.

Wegen der vielen Prozessbeteiligten tagt das Gericht in einer Düsseldorfer Messehalle.
Wegen der vielen Prozessbeteiligten tagt das Gericht in einer Düsseldorfer Messehalle. © Federico Gambarini/dpa

Nun sitzt der Bochumer ganz vorn, aufrecht, drei Becher Wasser neben sich. Schmaler ist er geworden als damals, als er vom muskelbepackten Trainer der Fitnesskette McFit innerhalb weniger Wochen zum Manager der hauseigenen Loveparade aufstieg. Für viele war dieser Mann das Gesicht der Loveparade, schon seit 2007 in Essen: Als Kreativdirektor, auch als „Leitung“ führt ihn die Akte, war er Organisator, Repräsentant, so etwas wie die rechte Hand seines Chefs Rainer Schaller. „Gesamtorganisation“, schrieb er später selbst in seinen Lebenslauf, auch wenn er sagt, dass das „ein bisschen aufgeblasen“ war. Im Organigramm von Lopavent steht er an der Spitze, im Prozess saß er bislang hinter Technik-, Produktions- und Sicherheitschef, gegen die nach wie vor verhandelt wird.

Loveparade sollte weiterziehen nach Shanghai

Die Loveparade in Dortmund im Juli 2008 fand auf der B1 statt.
Die Loveparade in Dortmund im Juli 2008 fand auf der B1 statt. © Matthias Graben

Manches kann er deshalb erzählen, was man so noch nicht wusste: dass es Pläne gab, die Loveparade zu „internationalisieren“, nach Shanghai sollte sie ziehen, mindestens aber in die beiden anderen Kulturhauptstädte des Jahres 2010, Pécs und Istanbul. Dass Rainer Schaller in Duisburg einen Förderturm als Bühne wollte. Dass sie eigens eine Medienbühne bauten auf dem alten Güterbahnhofs-Gelände, für 20.000 Euro, um eine große Lüge vor tanzender Jugend und gierigen Fernsehkameras zu inszenieren: 1,3 Millionen Menschen seien da. Sie schlugen dann live noch 100.000 drauf; die wahren Zahlen, vielleicht ein Fünftel, lagen verabredungsgemäß im städtischen Tresor.

So erzählt es der 47-Jährige, der seine dritte Loveparade nach der Absage ausgerechnet seiner Heimatstadt offenbar mit großer Leidenschaft plante. „Aus meiner Sicht war die Parade in Essen ein großer Erfolg“, die in Dortmund auch, „man konnte sie aus Berlin verpflanzen“. Es war sein Erfolg. Wie auch eine andere große Veranstaltung, die an den Jahresbeginn 2010 fiel: die Eröffnung der Kulturhauptstadt im Schneetreiben auf Zollverein. Beteiligte berichten heute noch, wie sehr der Eventmanager um die Sicherheit des Abends bemüht gewesen sei.

Loveparade als „Leuchtturm“ der Kulturhauptstadt

Die Gedenkstelle am Duisburger Karl-Lehr-Tunnel.
Die Gedenkstelle am Duisburger Karl-Lehr-Tunnel. © Martin Gerten/dpa

Bei der Loveparade, die doch auch ein „Leuchtturm“ der Kulturhauptstadt sein sollte, war die Sicherheit indes „komplett nicht mein Bereich“. Der Zeuge kümmerte sich um Clubs, Musik und Künstler („das übliche Riesentheater, wer wann auflegen darf“), um CDs, Merchandising, Getränke, um Sponsoren und Medien. Zwei Tage vor der Parade erklärte er Journalisten noch geduldig das Gelände – und seine Fluchtwege. „Das funktioniert alles, das können wir so machen“, habe ein Experte ihm gesagt. „Mach dir keine Sorgen, das läuft hier alles“, der Produktionsleiter. Trotzdem, sagt der 47-Jährige, habe er den Zugang „aus meine kreativen Sicht eng“ gefunden. „Es sah mir alles sehr eingekesselt aus.“

Technoparty in Gelsenkirchen fand nicht mehr statt

Dass später im Gedränge 21 Menschen starben, erfuhr der Gesamtleiter erst viel später. „Wir waren nicht in den Telefonkonferenzen, wir wussten nicht, was los ist.“ Niemand habe das sagen können. Wochenlang habe man danach die Videos analysiert, „manisch, um zu verstehen, was passiert ist“, vom frühen Morgen bis in die Nacht, bis in den Herbst hinein. „Es war wie ein Fieber.“

Mit seinem früheren Chef hat er sich in jener Zeit krachend überworfen, das weiß inzwischen jeder im Saal. Trotzdem ist er noch mehr als ein halbes Jahr geblieben – für die Aufarbeitung. Die geplante Loveparade in Gelsenkirchen fand nicht mehr statt.

>>INFO: NOCH DREI ANGEKLAGTE IM PROZESS

Nach 101 Verhandlungstagen hat die 6. Große Strafkammer des Duisburger Landgerichts das Strafverfahren gegen sechs Angeklagte aus der Stadtverwaltung und den Kreativdirektor der Veranstalterfirma Lopavent Anfang Februar eingestellt.

Nach dem vorläufigen Ergebnis der Beweisaufnahme sahen das Gericht und auch die Staatsanwaltschaft bei ihnen nur eine „geringe Schuld“. Drei Lopavent-Mitarbeiter stimmten einer Einstellung gegen Auflagen nicht zu, gegen sie wird weiterverhandelt.