Hamm/Ruhrgebiet. . Die meisten Diesel-Verfahren werden kurz vor dem zweiten Gerichtstermin aufgehoben. Offenbar einigen sich Kunden und VW-Konzern außergerichtlich.
Ein Kunde aus Schwerte will von einem Autohändler aus Herne für seinen Audi 27.000 Euro zurück. Ein anderer fordert von einem Händler aus Dortmund Ersatz für seinen VW Tiguan. Ein Kläger aus Lünen verlangt mehr als 20.000 Euro für seinen 2013 gekauften Golf. Ein Gelsenkirchener möchte 30.000 für einen Skoda, ein Händler aus Dorsten soll 43.000 Euro für einen Audi erstatten. Ein Herner fordert von einem Händler aus Marl sein Geld zurück. Eine Klägerin aus Witten will ihren Skoda loswerden, ein weiterer Wittener seinen VW Touran, ein Essener seinen Audi, ein Dortmunder seinen Passat. . .
Allein für die ersten beiden Monate des Jahres hatte das Oberlandesgericht Hamm als zweite Instanz 43 Verhandlungen über „Rechtsstreitigkeiten im sogenannten Abgasskandal“ terminiert: Kunde gegen Händler, Kunde gegen Hersteller. Allein, stattgefunden hat keine einzige.
Sämtliche 43 Termine wurden kurz vorher aufgehoben
Bis einschließlich 28. Februar, teilt das Oberlandesgericht auf Nachfrage mit, seien sämtliche Termine in der Sache aufgehoben worden. Ebenso wie die meisten von fast 70 anberaumten Prozesstagen im zweiten Halbjahr 2018 und insgesamt 200 von mehr als 500 anhängigen Verfahren – die fünf zuständigen Zivilsenate lassen die Absagen wegen ihrer Vielzahl schon gar nicht mehr mitteilen. „Gründe waren insbesondere Rücknahme der Klage, der Berufung und außergerichtliche Vergleichsgespräche.“
Es ist schon lange ein offenes Geheimnis: Der Volkswagen-Konzern bietet vielen klagenden Kunden Vergleiche an. Allerdings erst im Berufungsverfahren, meist kurz vor einem Termin an einem Oberlandesgericht. Seit im Herbst 2015 die Abgas-Manipulationen bekannt wurden, zogen rund 50.000 Diesel-Fahrer vor Gericht. Diese Zahl bestätigte das Unternehmen dieser Redaktion. In erster Instanz hätten Landgerichte inzwischen 14.000 Urteile gesprochen, mehrheitlich seien diese „im Sinne von Volkswagen oder der Händler entschieden worden“.
Bochumer Anwalt unterschrieb um die 100 Vergleiche
Trotzdem ziehen Tausende in die Berufung – vorbereitet auf einen längeren Rechtsstreit, der häufig vor der mündlichen Verhandlung abrupt endet. Dutzende Termine hatte allein der Bochumer Rechtsanwalt Jochen Struck für Februar auf dem Zettel – alle an Oberlandesgerichten in der zweiten Instanz. Keiner habe stattgefunden, sagt Struck, „wir rechnen schon gar nicht mehr damit“. Die Kanzlei Jordan Fuhr Meyer betreut mehr als 1000 Mandanten im Abgas-Skandal, viele hat sie in erster Instanz an Landgerichten in Bochum oder Essen gewonnen, zur zweiten kam es nie.
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100 Vergleiche, sagt Jochen Struck, habe er wohl schon unterschrieben, beinahe täglich einigten sich die Parteien, häufig erst am Abend vor dem Verhandlungstermin. „Teilweise wird um 22 Uhr noch abgeblasen.“ Ob sich Volkswagen für einen außergerichtlichen Vergleich entscheide, sagt der Sprecher in Wolfsburg, „ist von wirtschaftlichen Gesichtspunkten und vom jeweiligen Einzelfall abhängig.“ Und es bleibt geheim: Wie so eine Einigung aussieht, wer was zahlt – darüber unterschreiben die Beteiligten eine Stillschweige-Verpflichtung. Anonym erzählen Kunden allenfalls, dass ihnen ein Neuwagen angeboten wurde gegen Inzahlungnahme des alten.
Gerichte urteilen: Abschalteinrichtung ist ein Mangel
Ein Geschäft, das sich offenbar rechnet: für den Autofahrer, der für einen Neuwagen nicht viel draufzahlt, dafür aber von Fahrverboten nicht betroffen sein dürfte. Und für Volkswagen, das auf diese Weise Urteile vermeidet, die womöglich gegen den Konzern ausfallen – und so Präzedenzfälle schaffen. 22 Urteile von Oberlandesgerichten habe es überhaupt bislang gegeben, sagt der VW-Sprecher. Sie alle seien zugunsten von Händler und Hersteller ausgegangen. Es gibt aber auch Ausnahmen: Nicht nur das Oberlandesgericht Köln urteilte inzwischen, eine illegale Abschalteinrichtung sei juristisch ein Mangel; der Käufer könne also von seinem Vertrag zurücktreten. Vorvergangene Woche bestätigte das erstmals auch der Bundesgerichtshof.
Das könnte die Bedeutung eines Grundsatzurteils haben. Auch die Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentralen ist noch nicht verhandelt. Bislang haben sich mehr als 401.000 Dieselfahrer der Verbraucherklage gegen VW angeschlossen.
Ein Autofahrer aus Castrop-Rauxel hat es allein versucht: Der Kläger verlangte von einem Händler aus Bochum den Kaufpreis von 38.146 Euro für seinen 2014 erworbenen Passat zurück. Das Bochumer Landgericht gab ihm am 21. Februar 2018 überwiegend Recht, VW ging in Berufung. Auf den Tag genau ein Jahr später hätte das Oberlandesgericht Hamm nun verhandeln sollen. Der Termin vor dem 17. Zivilsenat wurde kurzfristig aufgehoben, auch dieser Rechtsstreit, wie so viele vor ihm, hat sich erledigt. Wie? Stillschweige-Verpflichtung.