Essen. . Fünf Kitas in Essen führen die Impfpflicht ein. Die Betreiberin hatte vier Jahre daraufhin gearbeitet – bis alle Eltern einverstanden waren.
Die Kinder der Obstrunde ahnen nicht, warum plötzlich die Kameras auf sie gerichtet sind. Obst ist gesund, aber daran liegt es nicht, dass kein einziges von ihnen an Masern, Mumps oder Röteln erkranken wird. Die Kleinen der „Kinderkiste“ in Essen-Huttrop sind ausnahmslos geimpft, ebenso wie die Kinder der vier privaten Schwester-Kitas. Das ist ein „glücklicher Zufall“ für Betreiberin Jutta Behrwind, und sie hat ihn genutzt, um als erster Träger in der Region eine verbindliche Impfpflicht einzuführen. Von nun an nehmen ihre fünf Einrichtungen nur noch geimpfte Kinder auf, „das wird Vertragsbestandteil“, sagt Behrwind. Die Eltern werden natürlich darauf hingewiesen, sogar schon bei der Anmeldung über das stadtweite Vergabesystem „Little Bird“.
Die 48-jährige Kita-Unternehmerin wagt sich damit auf vermintes Gelände, denn wenige Impfgegner und die Mehrheit der Impfbefürworter stehen sich recht unversöhnlich gegenüber. Darum wollte Behrwind diesen Schritt nur gehen, wenn wirklich alle Eltern der Impfpflicht zustimmen. Das haben sie nun getan – im vierten Anlauf. Vier Jahre lang hat Jutta Behrwind versucht, die Eltern zu überzeugen, hatte geschrieben, argumentiert und geworben, doch immer gab es unter ihren gewählten Vertretern Mütter, die Impfungen ablehnten, zuletzt waren es zwei von zwölf. Dieses Jahr jedoch waren sich die Elternräte „innerhalb von dreißig Sekunden einig“, erzählt ihre Vorsitzende Natalie Högerle. „Wir haben uns noch zwei Tage lang schlau gemacht und die Eltern informiert, dann haben wir zugestimmt.“
Tagesmütter sind die Vorreiter
Tatsächlich praktizieren bereits einige Tagesmütter die Impfpflicht, auch in Essen. „Ich habe mich entschieden, keine ungeimpften Kinder aufzunehmen“, sagt etwa Rebecca Eggeling, Sprecherin der Interessengemeinschaft (IG) Tagespflege. So gehe es auch anderen Tagesmüttern: „Wir haben Sorge, dass sich die betreuten Kinder oder die schwangeren Mütter anstecken, mit denen wir regelmäßig in Kontakt sind.“ Sie spreche damit nicht für alle rund 400 Mitglieder der IG. So gebe es auch Kolleginnen, die die Impfbereitschaft nicht als Kriterium für die Platzvergabe sehen und den Eltern die Entscheidung überließen.
Doch Kitas und die größeren Träger schrecken davor zurück, ungeimpfte Kinder abzulehnen und setzen auf Aufklärung. „Wir können aus unserem Selbstverständnis heraus keine Impfpflicht einführen, da es diese bundesweit auch nicht gibt. Es gilt ja weiterhin die Selbstbestimmung der Eltern“, sagt etwa Bernd Lösken, Gebietsleiter beim katholischen Kita-Zweckverband, der 265 Kitas im gesamten Ruhr-Bistum betreibt.
Die AWO Ruhr-Mitte hält ebenfalls nichts von einer „Impfpflicht“ für ihre Kindertagesstätten. „In die Selbstbestimmung der Eltern greifen wir nicht ein“, betont Gerrit Plein, stellvertretender Leiter des Kindergartenwerks. Es habe dementsprechend auch noch keine Überlegungen in diesem Zusammenhang für die 28 AWO-Kitas in Bochum und Herne gegeben. Und selbst wenn es zu einer bundesweiten Impfpflicht käme, wäre auch dann nicht die Kindertagesstätte in der Kontrollpflicht, findet Plein. „Als Wohlfahrtsverband und Träger sollte es nicht unsere Aufgabe sein, eine Impfpflicht zu überwachen. Das kann wenn überhaupt nur Aufgabe der öffentlichen Hand sein.“ In der Anlage zum Kita-Vertrag fragt die AWO Ruhr-Mitte derzeit allerdings schon ab, welche Impfungen erfolgt sind und ob es eine Impfberatung durch den Kinderarzt gab, sofern Impfungen fehlen. Diese ist seit 2015 verpflichtend im Präventionsgesetz festgeschrieben.
Bundesweite Impfpflicht ist nicht in Sicht
Ob darüber hinaus eine bundesweite Impflicht für Masern und Co. erforderlich ist, wie sie Frankreich, Italien und weitere elf EU-Staaten eingeführt haben, darüber ist die Fachwelt in Deutschland uneins. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ist seit Jahren vehement dafür. Eine Impfpflicht sei nötig zur Ausrottung der Masern und auch der Röteln, erklärte Präsident Thomas Fischbach. Damit sich eine Krankheit nicht ausbreiten kann, müssen 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. „Viele verbummeln wichtige Impfungen, einige wenige lehnen sie auch aus ideologischen Gründen ab. Ungeimpft sind Kinder einer Reihe lebensbedrohlicher Krankheiten ausgesetzt. Und sie gefährden auch andere Menschen, zum Beispiel Säuglinge und Kleinkinder, die noch nicht geimpft werden konnten, aber auch Erwachsene, die aus Ländern zu uns kommen, in denen nicht gründlich geimpft wird. Menschen sterben an Krankheiten, die längst ausgerottet wären, wenn sich alle Eltern gleichermaßen verantwortungsbewusst verhalten würden.“
Das Robert-Koch-Institut jedoch, das auch die Ständige Impfkommission unterhält, setzt auf Aufklärung. „Eine Impfpflicht würde mehr schaden als nützen“, sagt Sprecherin Susanne Glasmacher. „Mit Zwang erreichen Sie nur, dass Gegendruck entsteht.“ Die geringe Zahl an Impfskeptikern sei nicht das Hauptproblem, eher sei es die Nachlässigkeit. „Wir sehen an den Impfquoten, dass es offensichtlich kein Akzeptanzproblem ist.“ Tatsächlich können 96 Prozent der Kinder bei ihrer Einschulung die erste Masern-Mumps-Röteln-Impfung vorweisen. Allerdings ist eine zweite Impfung nötig, um Schutz zu gewährleisten, diese haben nur 93 Prozent der Kinder – vermutlich wegen Nachlässigkeit der Eltern.
Die Erwachsenen sind das größere Problem
Die sind oft selbst nicht ausreichend geimpft. „In den 80er- bis in die Nuller-Jahre hinein, waren die Quoten schlechter“, sagt Glasmacher. Bei mehr als 40 Prozent der 18- bis 44-Jährigen fehlt ein vollständiger Schutz gegen die Masern. Ein großes Problem sei auch, dass die Kinder zu spät geimpft werden, sagt die Sprecherin des Robert-Koch-Instituts. Ausreichend sei wohl die Beseitigung bürokratischer Hindernisse: Betriebsärzte sollten Impfungen leichter abrechnen können, Kinderärzte sollten die Eltern gleich mitimpfen dürfen.
Jutta Behrwind hat ihre Entschlossenheit unter dem Eindruck der Berichte zu den Maserwellen in Duisburg und Essen gefunden. In ihren Einrichtungen hatte sie bisher keinen Fall. „Ich habe aber eine Verantwortung für die Kinder und ihre jungen, noch nicht geimpften Geschwister, für schwangere Eltern und meine Mitarbeiter.“ Immer wieder gibt es Ausbrüche fast ausgerotteter „Kinderkrankheiten“ in der Region. Erst Anfang Dezember mussten 98 von 268 Kindern in Herdecke und Witten auf Anweisung des Gesundheitsamtes zu Hause bleiben, weil sie an Windpocken erkrankt waren oder Kontakt zu einer erkrankten Person hatten. Die Impfquote bei den Zweijährigen liegt etwa in Mülheim bei 82,5 Prozent, im Ennepe-Ruhr-Kreis nur bei 63 Prozent.
Ein Kernargument der Impfgegner lautet, dass bei Impfungen die Gefahr bleibender Schäden bestehe. Wissenschaftliche Studien haben jedoch laut Robert-Koch-Institut keinen Zusammenhang zwischen Autismus, Diabetes, Multipler-Sklerose und Impfungen feststellen können. In jedem Fall liege jedoch das Risiko, durch Masern und Co. bleibende Schäden zu erleiden oder gar zu sterben, deutlich höher als die Nebenwirkungen von Impfungen. Henry ist das jüngste Kind in der Huttroper Kita. „Er war tatsächlich eine Woche erkältet und hatte leichtes Fieber nach der Masern-Impfung“, berichtet Mutter Jenny Kleis (32), „aber wenn man sich überlegt, welch schwere Krankheitsverläufe drohen, ist das das kleinere Übel.“ Verständnis für Impfmuffel hat sie nicht, findet aber die Vorgehensweise der Kita-Betreiberin richtig, Einstimmigkeit herzustellen. „Wir leben ja in einer Demokratie.“
„Ich bin richtig glücklich, dass es endlich geklappt hat“, sagt Behrwind, die als Heilpraktikerin und Homöopathin der alternativen Medizin zugewandt ist, wie sie betont: „Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn man sein Kind nicht impfen lässt und damit auch andere in Gefahr bringt.“ Auf ihrem Anrufbeantworter hat sie am Donnerstagmorgen eine Nachricht aus dem Robert-Koch-Institut gefunden, eine Mitarbeiterin beglückwünschte sie zu der Entscheidung, inoffiziell.
(mit Jennifer Schumacher und Christina Wandt)