Bottrop. . Zehntausendfach soll ein Apotheker aus Bottrop Medikamente gepanscht haben. Eine Mitarbeiterin bestreitet, dass die Belegschaft dies wusste.

Letzte Woche hatte sie wieder einen Notdienst. Nachtdienst. Allein in der Apotheke, im Dunkel der Nacht. Wer weiß, wer schellt. „Ich sage Ihnen, das ist so schon ein Scheißgefühl. Aber jetzt hat man einfach Angst“, sagt die Apothekerin. Der Grund: die Drohungen.

Sie möchte nicht identifiziert werden; sie ist angestellt in jener Bottroper Apotheke, deren früherer Chef Krebsmedikamente gestreckt haben soll. Wenn das stimmt, hätten wohl Tausende Patienten Medizin erhalten, die wenig wirkte – oder gar nicht. Von Mitte November an wird sich die 21. Wirtschaftsstrafkammer des Essener Landgerichts mit dem Fall befassen, denn zu den Vorwürfen gehört auch: „Betrug“.

„Ich vermute, keiner hat etwas gewusst“

Unterdessen leiden die Beschäftigten, 80 bis 90 Menschen, Apotheker, PTAs, Fahrer, Praktikanten, Putzkräfte. Unter dem Gerücht, sie hätten gewusst, geahnt, getuschelt – und geschwiegen, lieber weggeguckt.

Das sei „die Aburteilung und Verurteilung von Menschen, die nach bestem Wissen und Gewissen ihrem Broterwerb nachgehen“, sagt die Apothekerin. Ihre Botschaft: „Ich vermute, keiner hat etwas gewusst. Für die Mitarbeiter, die mir am nächsten stehen, kann ich garantieren.“

Viel Zorn nach der Razzia

Viel Zorn ging auf die Beschäftigten nieder nach der Razzia Ende 2016, der Festnahme des Chefs und der Veröffentlichung der Vorwürfe. „Ich kam an dem Tag zur Arbeit, da kam mir ein Kollege entgegen, der war grün im Gesicht. Ich habe ihn gegrüßt, er hat nicht reagiert“, sagt sie.

Die nächste Zeit war geprägt von „Beschimpfungen und Bedrohungen: Ich komm’ und knall’ euch alle ab!“ Kollegen hätten geweint nach solchen Anrufen.

Vorübergehend schrieben sie in der Apotheke die Telefonnummern von Anrufern aus dem Sichtfenster ab, bevor sie das Gespräch annahmen – um im Fall des bedrohlichen Falles irgendetwas in der Hand zu haben.

„Das kann niemand ernsthaft behaupten“

„Sogar die kleinsten Angestellten sind beschimpft worden, die nicht das kleinste bisschen zu tun haben mit der Arbeit im Labor“, sagt die Apothekerin. Der Beschuldigte habe allein im Labor gearbeitet und die Medikamente hergestellt. „Da musste auch niemand weggucken, weil man gar nicht hingucken konnte.“

Demo nach Apothekerskandal

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    Nun hat auch Martin Porwoll, der als ehemaliger Mitarbeiter der Apotheke den Skandal mit aufdeckte, seine öffentlichen Zitate abgeschwächt. „Wenn ich sage, es sei ein offenes Geheimnis gewesen, was P. S. in seiner Apotheke gemacht habe, heißt das natürlich nicht automatisch, dass auch alle Kollegen davon gewusst haben“, heißt es in einer E-Mail an WAZ-Reporter.

    Und weiter: „Es ist auch niemals meine Intention gewesen, ehemalige . . . Kollegen in Misskredit oder in die Nähe der Taten von Herrn S. zu bringen. Das kann niemand ernsthaft behaupten.“

    1100 Gespräche an der Telefon-Hotline

    Auf einer Pressekonferenz am Dienstagvormittag hat die Stadt sich gegen den Vorwurf gewehrt, sie habe mögliche Betroffene zu lange in Sicherheit gewiegt. Christian Marga, der Leiter des Gesundheitsamtes, wies darauf hin, dass über die eigens eingerichtete Telefon-Hotline zu dem Fall bis jetzt 1100 Gespräche geführt worden seien. Es handele sich um ein „niederschwelliges Beratungsangebot“.

    Die Staatsanwaltschaft habe das städtische Gesundheitsamt bereits im November 2016 über die Verdachtsmomente informiert, verbunden mit der „dringenden Aufforderung“, Stillschweigen zu bewahren. Damals sei die Rede gewesen von 40 000 gestreckten oder verunreinigten Infusionsbeuteln und einer vierstelligen Zahl betroffener Patienten.

    Inzwischen geht die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift von 61 980 Fällen aus, in denen der Apotheker gegen Rezepturen oder Hygienevorschriften verstoßen haben soll.