Herne. Die Regierung hatte Herne zur “abgehängten Stadt“ erklärt. Oberbürgermeister Dudda tut alles, um die Stadt nach vorne zu bringen. Hat er Erfolg?

Herne hat Anfang April seinen neuen offiziellen Stadtslogan vorgestellt: „Mit Grün. Mit Wasser. Mittendrin.“ Der zeitliche Zusammenhang war mit Sicherheit Zufall, doch die Präsentation konnte auch als trotzige Antwort auf zwei ganz andere Attribute gedeutet werden, die Herne wenige Tage zuvor von der Bundesregierung verliehen worden waren: „Stark unterdurchschnittlich. Abgehängt.“

Zur Erinnerung: Die Regierung hatte in der Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion mitgeteilt, dass in fünf deutschen Städten stark unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse herrschen und diese Kommunen zu den abgehängten Regionen gehören: Oberhausen, Gelsenkirchen, Bremerhaven, Frankfurt/Oder - und Herne. Das klingt wie die Bestätigung eines hartnäckigen Klischees: Sie suchen in einem Ranking Herne? Finden Sie bei den Schlusslichtern.

Von Pessimismus ist nichts zu spüren

Doch in der Stadt ist von Lähmung oder Pessimismus nichts zu spüren, vielmehr breitet sich seit einiger Zeit Aufbruchstimmung aus. „Wir haben uns längst zukunftsweisend auf dem Weg gemacht“, sagt Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda im Gespräch mit dieser Zeitung.

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So viel ist klar: Der Weg wird lang und holprig. Es gibt genug Ecken in der Stadt, die das Image der grauen Maus, die zwischen den großen Nachbarstädten zerrieben wird, verströmen. Gerade in Wanne-Eickel fühlen sich zahlreiche Menschen schon in der eigenen Stadt abgehängt - auch mehr als 40 Jahre nach der Städte-Ehe quält sie der Phantomschmerz der verlorenen Selbstständigkeit. Finanziell ist die Lage in Herne dauerprekär, jedes Jahr aufs Neue ist das Bangen groß, ob die Bezirksregierung grünes Licht für den Haushalt gibt. Dabei ist der Investitionsbedarf groß. Bei Schulen oder den völlig überalterten Feuerwachen. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor eine der höchsten im Ruhrgebiet, allerdings: Im spürbaren Rückgang im Vergleich zum Vorjahr schimmert schon ein wenig der Aufbruch durch.

Interesse am vermeintlichen Siechtum der Stadt

Kaum war Herne das Etikett „abgehängt“ verpasst worden, rollten Kamerateams durch die Stadt, um das vermeintliche Siechtum in Bilder zu fassen. Bereits einige Wochen zuvor hatte die Süddeutsche Zeitung im Interview mit einem Schönheitschirurgen spöttisch gefragt, warum er seine Praxis zwischen Dönerbuden und Fingernagelstudios habe und nicht in Düsseldorf. In jenen Tagen bestanden Duddas Amtsgeschäfte hauptsächlich darin, sich gegen die desaströse öffentliche Wahrnehmung zu stemmen. Zweieinhalb Stunden nahm er sich für die Wirtschaftswoche Zeit, im ARD-Morgenmagazin versuchte er, in dreieinhalb Minuten darzulegen, warum Herne eben nicht abgehängt sei, sondern den Vorwärtsgang eingelegt habe.

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Das lässt sich an Zahlen wie diesen ablesen: Der Logistik-Riese UPS baut seinen Herner Standort für mehr als 70 Millionen Euro zu seiner wichtigsten Drehscheibe in Europa aus, der Autozulieferer Duvenbeck bezieht ein rund 30 Millionen Euro teures Logistikcenter, der Tiefkühllogistiker Nordfrost wird rund 80 Millionen Euro in eine neue Anlage investieren, das Entsorgungsunternehmen Remondis steckt rund 20 Millionen Euro in eine Aufbereitungsanlage für PET-Flaschen. Mehrere hundert neue Arbeitsplätze sollen so entstehen.

Aufbruchstimmung ist mit Dudda verbunden

Auch wenn Dudda auf sein Team verweist: Die Aufbruchstimmung ist in erster Linie mit seiner Person verbunden. Schon bevor er vor eineinhalb Jahren sein Amt antrat, machte er sich Gedanken, mit welcher Strategie man in Herne etwas bewegen kann. Ihm war klar: „Wir brauchen ein großes Unternehmen als Leader.“ Deshalb setzte er alle Hebel in Bewegung, damit UPS seinen Standort in Herne ausbaut - und sich nicht für Rotterdam entscheidet.

Mit Frank Dudda ist die Aufbruchstimmung in der Stadt verbunden.
Mit Frank Dudda ist die Aufbruchstimmung in der Stadt verbunden. © Fabian Strauch

Mit Erfolg. Dass Herne in einem internationalen Standortwettbewerb gewinnen kann, war in der Stadt eine völlig neue Erfahrung - und für Dudda die entscheidende Weichenstellung, um eine Strategie der emissionsfreien City-Logistik umzusetzen. UPS liefert inzwischen Pakete mit elektronischen Lastenfahrrädern aus, DHL ebenfalls mit „Stromern“. Da passt das Label „Innovation City“ bestens.

Das bekam Herne zwar gemeinsam mit zahlreichen anderen Ruhrgebiets-Kommunen verliehen, doch Herne treibt die Anleihe ans Englische inzwischen weiter. „Innovation City im Ruhr Valley“. Die Auflösung: Die Fachhochschulen Bochum, Gelsenkirchen und Dortmund wählten Herne als Standort für ihre Exzellenzinitiative, die von der Bundesregierung gefördert wird. Die graue Maus ist plötzlich Wissenschaftsstandort.

Stadtwerke spendieren Stiftungsprofessur

Hier soll zu den Themen umweltschonende Mobilität und nachhaltige Energieversorgung geforscht werden. Die Herner Stadtwerke spendieren dazu eine Stiftungsprofessur. Das neue Selbstbewusstsein Hernes klingt bei Dudda so: „Wir tragen wesentlich dazu bei, dass das Ruhrgebiet eine neue Ausrichtung bekommt.“

War in der Vergangenheit Hernes einziger Pluspunkt, die geografische Mitte des Ruhrgebiets zu sein, kann die Stadt plötzlich potenziellen Investoren eine Geschichte erzählen - die der grünen Infrastruktur. Die Rolle des Verstärkers übernahm Michael Groschek als früherer NRW-Bauminister, der nicht nur Dauergast in Herne ist, sondern auch im Land auf den fortschrittlichen Logistikstandort Herne hinwies. „Wir haben so etwas wie eine geistige Innovationspartnerschaft“, so Dudda.

Bei der Digitalisierung eher vorne als hinten

Doch es wäre eine zu enge Betrachtung, die Aufbruchstimmung allein auf Neuansiedlungen zu verengen. Dudda weist darauf hin, dass Herne bei der Digitalisierung und mit seiner Krankenhausdichte bundesweit eher auf den vorderen Plätzen mitspielt als auf den Abstiegsrängen.

Besonders wichtig ist ihm das Bündnis für Arbeit, das er kurz nach seinem Amtsantritt mit allen relevanten Akteuren geschmiedet hat. Dr. Regine Schmalhorst, ist seit Jahresbeginn Geschäftsführerin der Arbeitsagentur und hat deshalb noch einen neutralen Blick auf Herne. Schmalhorst zeigt sich beeindruckt, mit welchem Engagement das gesamte Netzwerk diskutiert, wie Herne nach vorne kommen kann.

Weniger als 10 000 Arbeitslose

Erste Ansätze sind sichtbar: Herne „konkurriert“ längst nicht mehr mit Gelsenkirchen, welche Stadt die höchste Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet hat. Innerhalb eines Jahres sank die Zahl der Arbeitslosen um 429 auf 9417 im April. Die psychologisch wichtige Marke von 10 000 ist deutlich entfernt.

Die Fußgängerzone an der Bahnhofstraße
Die Fußgängerzone an der Bahnhofstraße © Fischer

In der Bevölkerung mag die Aufbruchstimmung mit Verzögerung ankommen, bei den Akteuren fällt es schwer, Kritiker zu finden. Die IHK Mittleres Ruhrgebiet veranstaltete vor wenigen Wochen extra das 1. Wirtschaftsforum Herne, um die Bemühungen der Stadt zu würdigen. „Wer davon spricht, Herne sei ,abgehängt‘, ist einfach nicht up to date. Herne befindet sich längst auf der Überholspur und punktet permanent im Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte. Wenn eine Stadt so viele neue Investoren gewinnt, wenn eine Stadt so viele neue Arbeitsplätze schafft, wenn eine Stadt eine so konsequente Ansiedlungspolitik betreibt, wie Herne dies tut, dann baut eine Stadt mit Erfolg an ihrer Zukunft“, betont Hauptgeschäftsführer Eric Weik.

Unternehmer sehen einen deutlichen Aufschwung

Auch diverse Herner Unternehmer, die in der Vergangenheit nicht in dem Verdacht standen, eine besondere Nähe zu einem SPD-Stadtoberhaupt zu pflegen, sehen nun eine deutliche Aufschwungbewegung. „Der Oberbürgermeister kommt an vielen Stellen mit den richtigen Leuten ins Gespräch und bemüht sich aktiv, Dinge anzuschieben“, sagt Dr. Ludger Kleyboldt, Geschäftsführer des NWB Verlags. Und selbst der streitbare Verdi-Sekretär Norbert Arndt lobt den OB wegen seiner Bemühungen um neue Arbeits- und Ausbildungsplätze.

Das Geschehen in Herne wird längst jenseits der Stadtgrenzen registriert. Zum Beispiel bei der Talentförderung, mit der Schüler aus nicht-akademischen oder einkommensschwachen Familien an ein Studium oder an eine Ausbildung herangeführt werden sollen. In Herne nehmen alle weiterführenden Schulen an der Talentförderung teil - landesweit Spitze.

Die Talentförderung gilt als beispielhaft

Und so kann man beim Initiativkreis Ruhr das Etikett „Abgehängt“ nicht nachvollziehen. „Die Art und Weise, wie in Herne Talentförderung betrieben wird, ist beispielhaft“, so Bernd Kreuzinger, Geschäftsführer der Stiftung TalentMetropole Ruhr. In Herne werde an allen weiterführenden Schulen Talentscouting durchgeführt, damit sei Herne eine Vorzeigestadt. Und das Talentkolleg setze mit seinen Teilnehmerzahlen Maßstäbe. Kreuzinger: „Wir spüren in Herne eine große Offenheit und Bereitschaft für das Aufbauen von neuen Strukturen.“

Zurück zum neuen Stadtslogan: Der entstand unter großer Beteiligung der Bevölkerung. Mehr als 1000 Herner machten Vorschläge zu den Stärken Hernes. Die ganze Kampagne war in den Endausscheidung für den Politikaward in der Kategorie Partizipation. Für den Sieg reichte es nicht, aber abgehängt ist anders.