Marl. . Die Lebensmittelversorgung entfernt sich von den Menschen, beklagen viele. Ein Geschäft in einem Wohngebiet zu eröffnen, ist ein großes Risiko.

  • 1970 gab es noch 160 000 in Deutschland. Jetzt sind es noch gut 35 000.
  • Städte können wenig dagegen tun. Sie weisen Sperrgebiete aus, in denen keine neuen eröffnen dürfen.
  • Ulrich Schober sah die Chance, nah an den Menschen ein Geschäft zu eröffnen. Doch es läuft nicht.

Ulrich Schobers Supermarkt in der Holbeinstraße von Marl ist vermutlich der größte Kiosk der Welt. Er ist zwar so groß, so bestückt und so preiswert wie ein Supermarkt, mit 10 000 Artikeln auf 800 Quadratmetern.

Doch – leicht zugespitzt – laufen hier nur die Vergesslichen durch die Gänge, die beim Discounter etwas verschwitzt haben; oder die Spontanen, die für zwei Tiefkühlpizzen nicht mehr ins Auto steigen wollen; oder die Lustigen, die eine Kiste Bier mitnehmen. „Ich bin ein Resteversorger“, sagt Schober enttäuscht.

Denn das war einmal anders, 2010 war der erfahrene Kaufmann von dem leerstehenden Ladenlokal überzeugt. Ein reines Wohngebiet, bürgerlicher Zuschnitt, keine Konkurrenz in der Nähe: Das sah nach guten Geschäften aus. Das zentrale Argument ließ der Mann sich auf Schilder pinseln und außen überall aufhängen: „Frische in Ihrer Nähe“.

Getränkekisten statt Bedienungstheken

Der Eingang zum Supermarkt Schober. Die meisten Kunden kommen zu Fuß oder mit dem Rad.
Der Eingang zum Supermarkt Schober. Die meisten Kunden kommen zu Fuß oder mit dem Rad. © Lars Heidrich

Doch wo er damals tatsächlich die Theken einrichtete für frische Fische, Käse und Wurst, da stapeln sich heute Getränkekisten, und der Verkaufsraum des Bäckers steht auch leer. Schobers Erfahrung: Alle reden von wohnortnahen Lebensmittelläden – und fahren dann zu den Lidls, Aldis und Pennys in die Vorstadt.

Etliche Jugendliche aus der Siedlung hat er ausgebildet. Nicht, dass die Eltern bei ihm eingekauft hätten. Begründung: „Mama fährt doch immer zu Kaufland.“

Seit 2015 schlossen 1000 Lebensmittelläden

Schobers Fall ist ein spezieller, so viele Einzel-Händler mit Lebensmitteln gibt es ja gar nicht mehr. Aber der Trend ist klar: dass „schon jetzt ländliche Gebiete, Nebenzentren und einige Vororte eine wohnartnahe Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs nicht mehr flächendeckend gewährleisten können“, so der „NRW-Nahversorgungstag“ in Dortmund.

Die Einschätzung stammt von 2015, seitdem schlossen weitere 1000 Lebensmittelläden. Ein Rewe in Herne-Sodingen, ein Edeka in Duisburg-Friemersheim, Kaisers natürlich in Bochum-Stiepel . . . Gut 35 000 Lebensmittelläden gibt es noch in Deutschland, statt der 160 000 Krauter des Jahres 1970.

„Hat aber nichts geholfen“

Donnerstagnachmittag und wenig los.
Donnerstagnachmittag und wenig los. © Lars Heidrich

Was hat Schober nicht alles versucht: hat Jubiläum gefeiert und Grillparty, hat Hüpfburgen und Cocktailwagen kommen lassen. „Das kann man nicht jede Woche machen, und es kommt nichts zurück“, sagt er: „Der Gedanke ist den Leuten fremd, zu sagen, das ist mein Laden vor Ort, den unterstütze ich.“ Manchmal spricht er, selbst ein Marler, die Nachbarn an: „Dann heißt es, naja, du hast wohl Recht. – Hat aber nichts geholfen.“

Wohlgemerkt: Auch die Discounter trennen sich von den älteren, den kleineren Filialen nebenan. „Früher kamen sie mit 800 Quadratmetern klar, heute müssen es viel mehr sein“, sagt Rainer Gallus, der Geschäftsführer des Handelsverbandes NRW.

Lebensmittelbusse und neue Wochenmärkte

Das Sortiment größer, die Gänge breiter, die Regale niedriger – und dann brauchen sie noch ein paar Hundert Parkplätze vor der Tür. Der Laden muss sich ja auch rechnen!

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Der Kunde fährt gerne hin, das sieht man; aber vor allem „Ältere und Eingeschränkte“ bekämen Probleme, sagt Gallus. Immerhin: Wo Läden verschwinden, tauchen oft wenigstens Lebensmittelbusse auf, oder es halten sich Familienbetriebe mit türkischem Chef, weil sie Familienbetriebe sind.

Kleinere Orte experimentieren mit gemeinschaftlich betriebenen „Dorv“-Läden („Dienstleistung und ortsnahe Rundum-Versorgung“), und Städte versuchen manchmal, den Wochenmarkt wieder zu beleben. Herne etwa hatte das vor in Baukau, wo Rewe verschwunden war: Aber dann war die Energieversorgung des potenziellen Platzes zu teuer.

Von 42 Einzelhandelszentren gingen 14 verloren

Da Städte auch weiterhin keine Supermärkte betreiben dürften, können sie nicht viel tun: Sie können Sperrgebiete ausweisen für neue Supermärkte, aber „das große Ziel ist, den Einzelhandel da zu stärken, wo die Bevölkerung wohnt“, sagt Manfred Gehrke, Leiter der Wirtschaftsförderung von Marl: „Vom Resteverkauf können die Schobers dieser Welt nicht leben.“

Kommunen können vielleicht mal eine Erweiterung eher genehmigen oder die Parkplatzsituation verändern, aber das ist alles sehr überschaubar. Und so hat Bochum von 42 definierten Einzelhandelszentren, die es einmal hatte, über die Jahre 14 verloren.

Ansammlung von Pommesbuden

Das sieht dann aus wie im Vorort Goldhamme: Die Ladenlokale von einst beherbergen heute eine überaus bedeutende Ansammlung von Pommes-, Pizza- und Dönerbuden.

30 Kilometer weiter nördlich, in Marl, endet Ulrich Schobers Mietvertrag 2018. „Dann von Jahr zu Jahr. Ob ich das mache, weiß ich noch nicht.“ Der Rückzug erfolgt in kleinsten Schritten: Am Eingang steht „Geöffnet 7 bis 19 Uhr“, aber man kann noch gut erkennen, dass da mal eine 20 stand.