Essen. Christian Voecks arbeitet ohne festen Arbeitsort, denn er ist digitaler Nomade. An seinem Beruf reizt ihn vor allem die Freiheit.
Aus der Küche zieht gerade der Duft von frisch gekochtem Essen, während ein Gast einen Espresso an der Bar bestellt. Als Christian Voecks die große Treppe hinter der Bar herunterläuft, um sich auf dem Flur mit einer Bekannten zu unterhalten, wirkt es um ihn herum fast so, als würde er, wie die vielen Menschen an den Tischen rund um ihn herum, gerade seine Mittagspause beginnen. Doch anders als die vielen anderen Menschen im kleinen Restaurant, steckt Christian, oder Chris, wie er in seiner Community einfach nur genannt wird, gerade mitten in seiner Arbeit. Er ist ein digitaler Nomade, jemand, der mit seinem Laptop an immer neuen Orten arbeitet. Im Unperfekthaus in der Essener Innenstadt hat er heute seine Arbeitsstätte gefunden. In dem Kreativzentrum, direkt am Limbecker Platz gelegen, checkt der „ortsungebundene Selbstständige“, wie sich der Nomade selber nennt, häufiger ein.
Das typische Bild eines digitalen Nomaden, ein junger Mensch, der sich auf einem Facebook-Foto mit Laptop und Cocktail in einer Hängematte am Strand ausruht, bedient Chris zwar nicht - insgesamt versprüht der Ort, an dem er heute tätig ist, mit der bunten Kunst an den Wänden und markigen Sprüchen auf Kreidetafeln, die den Weg zu den Toiletten säumen, aber trotzdem eine lockere Atmosphäre. „Beim digitalen Nomadentum geht es unter anderem darum, für sich persönlich eine produktive Arbeitsumgebung zu finden“, erklärt der ehemalige IT-Mitarbeiter. „Ob das nun auf dem heimischen Balkon ist, in einem Café oder im Ausland spielt dabei eigentlich keine Rolle“. Angefangen habe sein Nomadentum mit dem Prinzip des Minimalismus, das er und seine Frau Andrea heute auch in anderen Lebensbereichen praktizieren: sich von Dingen zu trennen und nur das zu behalten, was einem nützt oder Freude bereitet. „Zu Hause gab es für uns einfach zu viele Ablenkungen. Da haben meine Frau und ich das Arbeitszimmer zunächst einmal komplett entleert und dann auf das für uns Wesentliche reduziert. Dadurch haben wir dann irgendwann angefangen, zusätzlich auch außerhalb zu arbeiten.“
„Man braucht Strukturen und Selbstdisziplin"
Wie eine produktive Arbeitsumgebung wirkt das Unperfekthaus mit seiner hippen Bar und der kleinen Liegeecke in einer Nische an der Wand - zumindest im Vergleich mit den meisten deutschen Großraumbüros – nicht unbedingt. Was für Außenstehende aber schnell nach einem, gemessen an traditionellen Vorstellungen, eher ungeeigneten Arbeitsplatz aussehen mag, ist für Chris, der zurzeit an einem Buch arbeitet und gemeinsam mit seiner Frau den Minimalismusblog „weggedacht.de“ betreibt, aber ein Ort, an dem man durchaus hart arbeiten und Ziele umsetzen könne. „Man braucht, wie andere Selbstständige, eine Menge Selbstdisziplin und Strukturen.“ Das Arbeiten an solchen selbst ausgewählten Orten könne aber gerade dabei helfen, solche Strukturen zu schaffen. Und, dass man unterwegs seine Ausrüstung nur auf das Notwendigste reduzieren müsse, sei ebenfalls ein positiver Nebenaspekt und würde, zumindest für ihn und seine Frau, unerwünschte Ablenkungen minimieren.
Arbeiten am Strand sei für ihn deshalb prinzipiell möglich, auch wenn er eine solche Umgebung für sich eher ausschließt: „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ein Strand wirklich eine produktive Arbeitsumgebung sein könnte“, erklärt der Nomade. Was für ihn allerdings nicht bedeute, das etwa ein Büro in tropischen Gefilden nicht auch eine produktive Umgebung sein könne - für viele seiner Bekannten sei das sogar tatsächlich eine Option. Das häufig in sozialen Netzwerken gezeigte Bild vom hippen Jüngling, der lässig am Strand Millionen verdient oder dem Hipster, der im Straßencafé mehr Kaffee trinkt als arbeitet, gebe es in der Realität allerdings kaum. Vielmehr würden solche Fotos meist nur Szenen zeigen, die bei den Netzwerknutzern und potenziellen Kunden gut ankämen, sagt Chris. Die wenigen Nomaden, auf die das gezeigte Bild wirklich zuträfe, seien - so wie in anderen Lebensbereichen, eine eher überschaubare Gruppe von nur wenigen Prozent. Es seien vor allem Leute, die sich und ihre Erfahrungen selbst gut vermarkten könnten und das eigene Image zu Geld machten.
Nomaden-Community teilt sich auf
Ansonsten würde sich die Community ungefähr hälftig aufteilen, wie ein auslandserfahrener Nomade, der mittlerweile mit Chris an einem der Tische im Restaurant Platz genommen hat, namentlich aber nicht genannt werden möchte, ergänzt. Da gebe es diejenigen Nomaden, die von ihrem Job mit einigem Aufwand gut leben könnten und die Unerfahrenen, die mit ihrer Arbeit kaum Einnahmen erzielen würden. „Die gut verdienenden Nomaden verbringen aber meist viele Stunden mit ihrer Arbeit.“ Generell sei es schwer, ein pauschales Urteil über die Verdienstmöglichkeiten und Arbeitszeiten von Nomaden zu treffen – zu unterschiedlich seien die Geschäftsentwürfe. „Da gibt es einige, die bauen sich ein sogenanntes passives Einkommen auf. Etwa einen E-Book-Vertrieb, der nach der Aufbauphase größtenteils von alleine abläuft und nur noch ab und an aktualisiert, gewartet und vermarktet werden muss,“ sagt der gegenüber von Chris sitzende Nomade, der noch ergänzt: „Da kommt dann tatsächlich Geld rein, ohne am Ende noch wirklich dafür zu arbeiten.“ Größere Summen seien das aber nur in seltenen Fällen
Andere Nomadenkollegen würden, so wie ortsgebunden Tätige, zudem regelmäßig mit größeren Partnern oder Agenturen zusammenarbeiten. „Das sorgt natürlich für ein relativ steuerbares Einkommen.“ Eine weitere Gruppe bildeten dann noch diejenigen Nomaden, denen es primär ums Reisen und ein Mehr an Freizeit ginge: „Diese verdienen zwar meist deutlich weniger. Allerdings sind die Lebenshaltungskosten, vor allem in vielen ostasiatischen Ländern, deutlich niedriger als in Deutschland – so niedrig, dass es manchmal sogar nur mit dem passiven Einkommen klappen kann, dort über die Runden zu kommen.“
Nicht nur Geld zählt, sondern auch Freiheit
Dass es auch ihm nicht nur um das schnelle Geld geht, erklärt dann wieder Christian Voecks anhand von einem Beispiel: „Mich hat immer der alte Spruch genervt, das 'Selbstständig' von den Worten selbst und ständig käme.“ Sein Ziel sei, mit seiner Selbstständigkeit neben einem vernünftigen Einkommen ein hohes Maß an Freiheit, etwa durch eine relativ freie Zeiteinteilung zu erreichen, auch wenn er selber, zumindest von Berufswegen her, nicht mehr selber durch die Welt reist. Mittlerweile haben der Ratinger und seine Frau sich auf das mobile Arbeiten in der Region spezialisiert.
Über internationale Erfahrung verfügt der Nomade trotzdem: mehrere Jahre war er für den Softwarekonzern SAP als IT-Experte in Indien und den USA unterwegs. Später war er für die Naturschutzorganisation „Sea Shepherd“, deren Logo er auch beim heutigen Treffen auf seinem Pullover trägt, in Japan unterwegs. „So habe ich das Arbeiten, nur mit einem Laptop als Werkzeug im Gepäck und dazu relativ eigenständig, richtig kennengelernt.“ Die Initialzündung, irgendwann sein Reisegepäck und später auch seine Einstellung zu benötigten Dingen zu ändern, habe damals die Begegnung mit einem Rucksacktouristen ausgelöst. „Er hat mir gezeigt, wie wenig Gepäck man eigentlich braucht, weil man Kleidung ja auch unterwegs waschen kann.“
Gegenseitiges Feedback
Und auch heute, beim Treffen im Unperfekthaus mit einer Gruppe anderer Nomaden, einem sogenannten „Mastermind“, einer Runde, in der sich besprochen und gegenseitig von Projekten berichtet wird, besteht seine Arbeitsausrüstung aus nicht mehr als einem Rucksack, gefüllt mit einem Laptop und etwas Zubehör. „Die Treffen dienen einerseits zur Motivation und zum Austausch. Andererseits geht es dabei auch ein Stück weit um gegenseitige Kontrolle“, erzählt Chris.
Die Sitzungen gäben Struktur und würden zusätzlich anspornen, zum jeweiligen Termin etwas Neues zu präsentieren. Welche Dienstleistungen oder Tätigkeiten die teilnehmenden Nomaden dabei anböten, sei völlig egal. „Wir geben uns gegenseitiges Feedback und beraten uns gegenseitig. Also immer dann, wenn das möglich ist“, sagt Chris. Wenn es sich anbieten würde, käme es auch schon mal zu einer Zusammenarbeit. „Die Regel ist das aber nicht. Häufig vermitteln wir uns eher Kontakte.“
Örtlichkeiten passen zur Arbeitsweise
Neben der hohen persönlichen Freiheit sei das Knüpfen von Kontakten, vor allem in Örtlichkeiten wie dem Unperfekthaus, sowieso einer der größten Vorteile der nomadischen Arbeitsweise. Für fast alle Aufgaben und Probleme gebe es im Bekanntenkreis einen Experten. Und Orte wie das Essener Kreativhaus förderten das Netzwerken: Für den Eintritt von rund sieben Euro stehen im Haus kostenloses WLAN und kostenlose, nicht-alkoholische Getränke zur Verfügung. Einen Arbeitsplatz können sich die Gäste in den verschiedenen Räumen frei wählen – so kommt man schnell in Kontakt mit anderen Kreativen. Allerdings ist der physische Kontakt manchmal genau so schnell wieder vorbei: Wer keine Lust mehr auf einen Ort hat, der muss als Nomade dort schon am nächsten Tag nicht mehr erscheinen.