Ruhrgebiet. . Immer mehr Kinder gelten als arm. Woran lässt sich das erkennen, was ist eigentlich Armut? Auskunft geben Frauen, die täglich mit Kindern arbeiten.
Die eine leitet eine Kindertagesstätte im östlichen Ruhrgebiet, die andere ist Lehrerin an einer Gesamtschule. Wir nennen sie Maike Müller und Sonja Weber, obwohl beide in Wahrheit anders heißen. Aber wir wollen mit ihnen über ein heikles Thema sprechen, mit dem sie täglich in Berührung kommen. Über Kinderarmut. Da spricht es sich leichter, wenn man anonym bleibt.
Natürlich kennen beide die jüngste Studie über Kinderarmut, vor allem im Ruhrgebiet, die besagt, dass die Zahlen steigen, dass immer mehr Kinder und Jugendliche betroffen sind. Und sie können aus Erfahrung nahezu jedes Klischee bedienen, dass es in diesem Zusammenhang gibt. „Aber“, sagen beide übereinstimmend, „so einfach ist das alles nicht.“ Denn Armut ist nicht nur Geld, das fehlt.
Armut lässt sich nicht leicht erkennen
Es fängt schon damit an, dass es nicht so einfach ist, festzustellen, wer denn arm ist und wer nicht. Vor allem nicht an einer Schule. Dass ein Kind früher ohne Frühstück zum Unterricht kommt, mag ein Indiz gewesen sein. Heute nicht mehr. „Nahezu jede Schule hat ja eine Caféteria und/oder eine Kantine“, erklärt Weber.
Und auch an der Kleidung lässt sich wenig über die finanziellen Verhältnisse im Elternhaus sagen. Dünnes T-Shirt bei Minus-Temperaturen, abgeranzte Turnschuhe, Löcher in den Jeans? „Solche Kinder müssen nicht zwangsläufig arm sein“, weiß Weber. „Die finden es einfach cool, so etwas zu tragen.“
Zahl der Anträge auf Zuschüsse nimmt zu
So bleibt am Ende praktisch nur ein handfestes Indiz. Der Zuschuss, beziehungsweise die Erstattung der Kosten für Klassenfahrten. „Früher hatten wir ein oder zwei Kinder, die da Anträge gestellt haben. Heute sind es im Schnitt acht bis zehn.“
Müller hat es ein bisschen leichter. Sie sieht, wer Zuschüsse zum Essen in der KiTa bekommt. 14 von 46 Kindern sind das „und es waren schon mal mehr“ in dieser Gegend, die „nicht die beste ist, aber auch kein sozialer Brennpunkt“. Wird es also besser? „Die Elternschaft ändert sich ständig. Das kann nächstes Jahr schon wieder ganz anders aussehen.“ Es ist ja auch nicht wirklich gut zur Zeit. Was die Erzieherinnen manchmal schon am Morgen merken. Wenn aus der Frühstücksdose der kalte Döner von gestern quillt oder der Rest der Pizza, die es zum Abendessen gab. Obst? Gemüse? „Fehlanzeige.“
Auch die Kleidung bietet Anhaltspunkte für die häusliche Situation. Selten ist sie unmodern, oft aber verschlissen, riecht muffig, ist schmuddelig. „In manchen Familien wird nicht so oft gewaschen“, wissen die Erzieherinnen seit langem. Das alles hat nicht nur mit fehlendem Geld zu tun. „Das hat auch was mit Faulheit zu tun.“ Denn natürlich muss das alles nicht sein. „Kindertrödel, Kleiderkammer, es gibt so viele Möglichkeiten, umsonst oder günstig an gute Kleidung zu kommen“, sagt Müller. Und an andere Dinge auch. „Man muss sich nur bemühen.“
Manche Kinder kennen nichts anderes als Hartz IV
Sie reden mit den Eltern. Vorsichtig, um ihnen nicht zu nahe zu treten. Sie geben Tipps, wollen helfen, weisen auf Fördermöglichkeiten hin – oft ist es vergeblich. „An viele kommt man gar nicht mehr heran.“ Ein Problem, das auch Sonja Weber nur zu gut kennt. „Elternabend oder -sprechtag, Weihnachtsfeier, Tag der offenen Tür, manche Eltern sieht man nie. Und das sind fast immer die, die eigentlich die meiste Zeit haben, weil sie nicht arbeiten gehen.“ Aber sie haben sich eingerichtet in ihrer von Arbeitslosenhilfe – heute ALG II genannt – finanzierten Welt und wollen da nicht mehr heraus. Das färbt auf den Nachwuchs ab.
Müller erzählt von einem Mädchen ihrer Einrichtung, das sie kurz vor dem Wechsel zur Grundschule gefragt hat, was es denn später mal machen wolle. „Hartz IV hat die Kleine geantwortet.“ Weber nickt. „Höre ich immer wieder. Manche Kinder kennen ja seit Geburt kein anderes Leben ihrer Eltern.“
Vor allem eines fehlt den Kindern: Aufmerksamkeit!
Natürlich, sagt Müller, könne man nicht alle über einen Kamm scheren. Natürlich gebe es die, die erst vor kurzem in die Arbeitslosigkeit gerutscht sind, die wieder da raus wollen, sich bemühen und bewerben – meist erfolglos. „Da wächst dann die Frustration in der Familie. Und die Kinder merken das natürlich, weil sie – ähnlich wie bei den Langzeitarbeitslosen – viel zu kurz kommen.“ Weil Papa lieber mit seiner Playstation als mit ihnen spielt. Und weil statt Mama nur die Mattscheibe zu ihnen spricht.
Was ihnen das Zuhause nicht gibt, versuchen sich viele Kinder in Schule oder Tagesstätten zu holen. Weber trifft immer wieder auf „wildfremde Jungen und Mädchen, die mir in der Pause ihr Leben erzählen.“ Und auch bei Müller berichten die kleinen Gäste, was Mutter und Vater nicht mehr interessiert.
„Es gibt für alles Hilfen“, ärgert sich Müller. „Nur nicht dafür, sein Kind in den Arm zu nehmen.“ Weber denkt da ganz ähnlich. „Ja“, sagt sie, „es gibt Kinder, denen fehlt es an Geld. Vielmehr aber fehlt es den meisten an Aufmerksamkeit.“