Essen. . Islamwissenschaftlerin Kaddor spricht im Interview über Sektenstrukturen, Einstiege in den Salafismus und ein Erkennungsmerkmal: den Rheinland-Akzent.
Zwei 16-Jährige aus Essen und Gelsenkirchen sitzen unter anderem wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft. Sie sollen vergangenen Samstag mit einer selbstgebauten Bombe einen Anschlag auf den Tempel der indischen Sikh-Gemeinde im Essener Norden verübt haben. Drei Menschen wurden verletzt. Die Jugendlichen haben zum Teil gestanden. Terroristen wären sie damit. Terroristen in der Pubertät. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor hat ein Buch über die Bereitschaft von Jugendlichen geschrieben, in den Dschihad zu ziehen: „Zum Töten bereit“.
Was macht den Salafismus offenbar so attraktiv für Jugendliche?
Lamya Kaddor: Die Ideologie ist sehr simpel gestrickt. Sie funktioniert nach einem Schwarz-Weiß-Schema, die Welt ist eingeteilt in gut und böse. Und es gibt eine klare Anleitung in diesem geschlossenen System, die einem zeigt, wie man ein vermeintlich guter Mensch sein kann.
Auch, wenn das bedeutet, andere zu verletzen? Da gibt es doch eine gewisse Hemmschwelle, wie schafft der Salafismus es, diese zu überwinden?
Kaddor: Diese jungen Leute stecken in starken Sektenstrukturen. Sie wollen dazu gehören, nehmen dazu Mutproben auf sich und wollen sich unbedingt in ihrem vermeintlichen Glauben beweisen. Es sind klassische Muster: wir gegen die.
„Der Schockeffekt erreicht uns alle“
Welche Rolle spielt der Che-Guevara-Effekt, dass man einfach schockieren will?
Kaddor: Eine große Rolle. Auch ich bin schockiert darüber, dass zwei 16-Jährige einen Anschlag auf eine Hochzeitsfeier verüben. Der Schockeffekt erreicht ja uns alle. Häufig und oft auch überwiegend ist es eine große Rebellion gegen das Elternhaus. Und gegen die Gesellschaft, die in diesem Denken die verdiente Antwort für ihre Islamfeindlichkeit bekommt.
Ist die Gesellschaft denn islamfeindlich?
Kaddor: Ein 16-Jähriger wird nicht in der Lage sein, die verschiedenen Aspekte differenziert auseinanderzuhalten. Aber natürlich sind zum Beispiel die Äußerungen der AfD eindeutig islamfeindlich und nicht nur islamkritisch. Etwa wenn es heißt, „Der Islam“ passe nicht zu Deutschland.
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Muslimische Jugendliche haben es tatsächlich schwerer auf dem Arbeitsmarkt als andersgläubige Jugendliche. Schon allein weil sie Ali oder Fatima heißen, haben sie nach einschlägigen Studien viermal geringere Chancen, den gleichen Bildungszugang zu erhalten. Unabhängig davon sind sie auch dem normalen Alltagsrassismus ausgesetzt.
Welche Faktoren spielen noch eine Rolle?
Kaddor: Wenn noch ein schwieriges Elternhaus dazukommt, entsteht womöglich ein Gefühl, überall abgelehnt zu werden: Die Gesellschaft will einen nicht, die Eltern kümmern sich vielleicht einfach nicht. Die Persönlichkeit kommt ins Schwimmen. und bestimmte Gruppierungen suchen genau nach solchen Jugendlichen. Mehmet hätte genausogut ein Rechtsradikaler werden können. Das Schema ist das gleiche. Aber praktisch geht das offensichtlich nicht.
Die Faszination für den Salafismus lasse langsam nach
Gibt es denn überhaupt eine subkulturelle Salafistenszene?
Kaddor: Die äußeren Erkennungszeichen sieht man heute seltener als vor zwei Jahren: das Bärtchen, T-Shirts, auf denen der Adidas-Schriftzug zu Al Kaida wird. Der Habitus ist am wichtigsten, vor allem an der Sprache kann man die Anhänger eher erkennen. Sie sprechen plötzlich mit rheinischem Akzent, wie führende deutschsprachige Salafistenprediger ihn sprechen, und mischen typische islamistische Floskeln rein.
Mit rheinischem Akzent, tatsächlich?
Kaddor: Ja, sogar Salafisten in München sprechen diesen kölschen Dialekt. Sie hören zum Beispiel Nasheeds, islamischen Gesang, aber mit Hip-Hop-Beat unterlegt.
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Aber wie gesagt, ich habe das Gefühl, diese äußeren Anzeichen gehen zurück.
Ist der Salafismus weiter auf dem Vormarsch?
Kaddor: Die Faszination lässt nach. Die Zahlen sind noch nicht rückläufig, aber steigen nun nicht mehr so stark an. Die Dynamik hat sich abgeschwächt. Das sieht man zum Beispiel an den nachlassenden Ausreisezahlen. Und es sind ja nicht die im Vergleich zum Rechtsradikalismus geringen absoluten Zahlen, die uns beunruhigt haben, sondern die Zuwachsraten. Man wird das Phänomen ohnehin nie auslöschen können. Ein Bodensatz wird immer bleiben.
Radikale Jugendliche gibt es auch in den oberen und mittleren Schichten
Was kann man präventiv tun?
Kaddor: Eine Menge. Die Familien müssen gestärkt werden, die Eltern sensibilisiert. Wir brauchen mehr Stellen im Bildungssektor, besser ausgebildete Lehrer und Sozialarbeiter. Das Thema Interkulturalität muss im Studium und auch im öffentlichen Dienst implementiert werden. Heute gehört es nicht zur normalen Ausbildung. Die Gesellschaft und die Politik muss sich eindeutig gegen Islamfeindlichkeit positionieren. Das tut sie derzeit nicht. Aber der Salafismus speist sich auch aus der Islamfeindlichkeit. Und umgekehrt speist sich die Islamfeindlichkeit wiederum auch aus dem Salafismus.
Wie kann man denn die Eltern erreichen, wenn sie sich nicht schon um ihre Kinder kümmern? Man trifft sie wahrscheinlich nicht in der Schulpflegschaft?
Kaddor: Sie unterschätzen das Phänomen. Es betrifft auch obere und mittlere Schichten. Der Salafismus ist eine Gefahr für alle Kinder. Auch für herkunftsdeutsche, andersgläubige Kinder und Jugendliche. Wir haben ja viele Konvertiten unter den Bürgerkriegsreisenden, den sie für sich als Dschihad proklamieren.
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Für den politischen oder dschihadistischen Salafismus macht es keinen Unterschied, ob die Jugendlichen muslimisch sind oder nicht. Für diese Ideologie ist wichtig, dass sie verführbar sind. Die Verführer suchen nach ungefestigten Persönlichkeiten. Eltern und Lehrer sollten wachsam sein bei plötzlichen Wesensänderungen. Dafür muss man kein Salafismusexperte sein.
Was könnte jugendliche Extremisten denn dazu bringen, ausgerechnet eine Sikh-Gemeinde anzugreifen?
Kaddor: Wenn sie in so einer Sekte drinstecken, können sie nicht mehr klar denken. Die Welt wird ganz anders wahrgenommen. Aus Sicht dieser Ideologen sind die Sikhs wahrscheinlich klassische Ungläubige. Gegen diese Sichtweisen müssen wir als Muslime auch mehr tun.