An Rhein und Ruhr. . Auf Lehrer wartet die Mammutaufgabe, die neuen Schüler zu integrieren. Besuch in einer Grundschule in Essen
Die Größe der Aufgabe treibt nicht nur Pädagogen Schweißperlen auf die Stirn. Von den erwarteten 800 000 Flüchtlingen in diesem Jahr sind vermutlich ein Drittel Kinder. Und in NRW besteht für sie Schulpflicht. Was also tun mit Zigtausend Mädchen und Jungen, die die Sprache nicht sprechen, aus einer anderen Welt kommen und vielleicht Dinge erlebt haben, die auch für den erwachsenen Mitteleuropäer unvorstellbar sind? Wir haben da nachgefragt, wo mehr Erfahrung sitzt. An der Bodelschwingh-Grundschule im Essener Stadtteil Altendorf etwa, dort haben 96 Prozent der 219 Kinder einen Migrationshintergrund, heißt, mindestens einer der Eltern wurde im Ausland geboren. Die Klasse 1 A nimmt gerade nach der Pause wieder Platz an den Bänken.
Die Kinder haben nach zwei Minuten den Besucher in der Ecke wieder vergessen. Das Leben ist auch so schon aufregend genug. Mit großen Augen folgen sie jeder Bewegung ihres neuen Leitsterns. Arzu Binici ist ganz offensichtlich eine Lehrerin, die den richtigen Ton trifft. Die Aufmerksamkeit jedenfalls, die Ruhe in einem Raum mit 24 kleinen Kindern sind nach nicht mal vier Wochen Schule extrem beachtlich.
Ein Schild neben der Tafel weist darauf hin, dass das A der Buchstabe der Woche ist, die Kinder mühen sich aber gerade mit Zahlen ab. Anishka krickelt die 3 in ihr Malbuch, sie ist erst seit wenigen Tagen da, geflohen aus Afghanistan, sie spricht nur wenige Worte Deutsch, aber das ist nun mal die einzige Sprache, die im Unterricht gesprochen werden darf. Als sie stockt, beugt sich ihr Nachbar herüber, Abdul, ein kleiner Junge aus dem Irak, und erklärt ihr die Sache leise. Anishka versteht offenbar, lächelt und malt die nächste 3.
Klingt alles ein bisschen sehr rosarot? Stimmt, war aber so. Dass es auch jede Menge Probleme gibt, davon kann am besten die Chefin berichten, Hannelore Herz-Höhnke, die als Schulleiterin mit elf Lehrerinnen, einem Lehrer, einer Erzieherin und einer Sprachbegleiterin versucht, die neuen Aufgaben zu wuppen. „Die Weltsituation ist natürlich auch bei den Kindern Thema. Die schnappen zu Hause was auf, sehen was im Fernsehen, sind verunsichert.“
Da setzen sie an. Liefern Information, erklären auch an der Landkarte. „Vor einiger Zeit haben die Kinder auf dem Schulhof Krieg gespielt. Türken gegen Jesiden. Die sind sich richtig an die Wäsche gegangen.“ Sie schnappt sich dann die Kinder und redet mit ihnen lange, erklärt, und versucht vor allem eins zu wecken: ein Gemeinschaftsgefühl. „Die Vertrautheit der Schule ist wichtig. Auch für die Eltern. Die Eltern spüren dann, dass wir uns um die Kinder kümmern, uns sorgen. Das hilft. Mit den Eltern haben wir keine großen Probleme.“
Auch wenn in manchem Zuhause zu antiquierte und handgreifliche Erziehungsmethoden eingesetzt werden, wird das Gespräch gesucht. „Und wir sagen auch den Kindern, dass niemand sie schlagen darf. Wenn die Eltern sagen: Aber das ist doch unser Geschäft, dann sage ich ihnen einfach: Nein, nicht hier, in unserer Demokratie gibt es das nicht.“ Punkt. Und die meisten akzeptieren den Punkt.
Besondere Fürsorge brauchen die Kinder, für die der Krieg so überhaupt kein Spiel ist. Christine Böckler, die als Erzieherin eine Fördergruppe leitet, sagt: „Da ist das Mädchen aus dem Irak, eine Jesidin, und die Angst um die Familie dort. Fast in jeder Stunde hat sie angefangen zu weinen. Ich nehm sie dann einfach in den Arm.“ Hat noch nie geschadet.
Aber wie geht’s weiter, wenn die Zahlen wachsen? Hannelore Herz-Höhnke rechnet vor. „28 Kinder in der Klasse, mehr dürfen es nicht sein. Wir müssen Partner ins Haus holen. Wir müssen Menschen ansprechen, die helfen können. Übers Ehrenamt, über die Kirche.“ Da sind noch gar nicht alle Möglichkeiten gedacht. Denn die fremde Sprache zu erlernen, das ist der Knackpunkt, dann geht vieles wie von selbst. Dann ist das Flüchtlingskind keins mehr, dann ist es angekommen. Die Erfahrung der Pädagoginnen sagt, dass die Kinder ein halbes bis ein Jahr brauchen, um das zu schaffen. „Ganz wichtig ist außerdem die positive Einstellung, die in einer Schule herrscht. Bei uns gibt es kein Gejammer der Lehrer. Wir sind eine positiv-verrückte Clique. Wir stellen uns der Herausforderung.“
In der 1 A nähert sich das Ende der Stunde. Die Kinder werden langsam müde. Ibrahim ist in eine der großen Yoga-Stellungen des Schülerseins übergegangen, die jeder von früher kennt. Linke Faust auf den Tisch, rechte darüber, und dann ganz sacht das Kinn darauf abstützen. Und der Blick ist weit und fern und auf die Muße des Nachmittags gerichtet. Ein schönes Bild zum Schluss. Ein beruhigendes in unruhiger Zeit.