Solingen. Vor 30 Jahren setzten Neonazis das Haus der Familie Genç in Solingen in Brand. Fünf Frauen und Mädchen starben. Gespräch mit einer Zeitzeugin.

Saime Genç. Hülya Genç. Hatice Genç. Gürsün İnce. Gülüstan Öztürk. Das sind die Namen der fünf Mädchen und Frauen, die am 29. Mai 1993 sterben mussten, weil Neonazis das Wohnhaus in der Unteren Wernerstraße in Solingen anzündeten. 17 weitere Menschen wurden teils schwer verletzt. Die Wunden sind bis heute nicht geheilt. Der Solinger Brandanschlag, einer der schlimmsten rassistischen Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik, jährt sich an diesem 29. Mai zum 30. Mal. So viele Jahre sind vergangen, so viele Fragen sind noch offen, so viele Aufgaben zu bewältigen. Welche Lehren nach 30 Jahren noch immer zu ziehen sind, darüber spricht Birgül Demirtaş, Zeitzeugin des Solinger Brandanschlags und Sozialpädagogin, im Interview mit der NRZ. Sie hat gerade im Transcript-Verlag ein Buch herausgegeben, das die Betroffenen zu Wort kommen lässt. Das, so sagt sie und beklagt es, hat in 30 Jahren zu wenig stattgefunden.

Sie waren damals 19 und lebten wie heute in Solingen. Wie haben Sie den Anschlag an jenem 29. Mai erlebt?

Birgül Demirtaş: Der Brandanschlag hat mich total politisiert. An diesem Morgen bin ich zum ersten Mal mit dem Begriff Rassismus konfrontiert worden. Auch der Gedanke, dass Menschen aus rechten Motiven morden können, war mir bis zum 29. Mai nicht bewusst gewesen. Klar, wir haben von Mölln gehört, meine Eltern waren wachsam. Aber als es bei uns in Solingen passiert ist, so nah ... Wir haben damals viereinhalb Kilometer von der Familie Genc, vom Anschlagsort, entfernt gewohnt. An diesem Samstagmorgen haben meine Tante und meine Großmutter aus der Türkei angerufen, erst von ihnen haben wir von dem Brandanschlag hier in unserer Stadt erfahren. Wir hatten damals keine Handys oder sozialen Netzwerke. Meine Tante und Großmutter haben meine Mutter aufgefordert, in die Türkei zurückzukehren. Aber das kam nicht infrage.

Was damals geschah

In der Nacht des 29. Mai 1993 hatten Rechtsradikale das Haus der türkischstämmigen Familie in Solingen angezündet. 17 Familienmitglieder waren dabei schwer verletzt worden. Mevlüde Genç und ihr Mann Durmuş Genç verloren zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte. Kurz nach der Tat waren vier junge Solinger im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen worden. Sie waren der rechten Szene zuzuordnen und wurden 1995 wegen Mordes verurteilt.

Die Brandruine ist längst abgerissen. Große Kastanien füllen die Baulücke.

Ende Oktober 2022 starb Mevlüde Genç, die nach dem Anschlag immer wieder zur Besonnenheit aufrief, obwohl sie Verwandte verloren hatte.

Wie ging es nach dem Anschlag für Sie weiter?

Wir durften nicht rausgehen, mehrere Wochen nicht. Mein Bruder und ich sind von zuhause durch ein Fenster abgehauen und sind ein paar Kilometer weiter in die Innenstadt gegangen. Dort haben schon die Demonstrationen stattgefunden. Wir haben ja nur vom Hörensagen gewusst, was passiert ist, wir wollten uns selbst ein Bild machen. Wer betroffen ist, wo der Anschlag passierte, wie viele Personen verstorben sind, dazu hatten wir zunächst keine Informationen. Einschneidend für mich war die Trauerfeier in Köln ein paar Tage später, als ich die fünf aufgebahrten Särge gesehen habe. Besonders die drei kleineren Särge haben bei mir sehr viele Emotionen ausgelöst. Das hat mich tatsächlich geprägt. Ich war selbst eine junge Frau, frisch verliebt, ich wollte mich mit so etwas überhaupt nicht auseinandersetzen.

Das Thema hat Sie nie wieder losgelassen.

Nein. Das Thema war nie aus meinem Kopf, weil man immer irgendwo über das Thema redet, auch unter Türkischstämmigen. Irgendwann hat meine eigene Aufarbeitung begonnen, 2006 habe ich angefangen, mit Betroffenen zu sprechen, Dokumentationen zu machen, kleinere Vorträge zu halten und das Bewusstsein darauf zu lenken.

Sie schreiben in Ihrer Veröffentlichung, es gilt, Wissenslücken aufzuarbeiten. Was weiß die junge Generation über den Anschlag?

2019 hat eine Studie untersucht, inwieweit der Brandanschlag bei Kindern und Jugendlichen bekannt ist. Die Erkenntnisse waren erschreckend: Viele Kinder und Jugendliche haben von dem Solinger Brandanschlag kaum Wissen. Menschen, die selbst in Solingen zur Schule gehen. Das versucht die Stadt Solingen nun aufzuarbeiten. Ich habe eine Anfrage bekommen, Bildungsmaterial zum Brandanschlag für Kinder und Jugendliche zu konzipieren, das dieses und letztes Jahr veröffentlicht wurde. Es gibt aber auch viele Erwachsene, die mit dem Thema nichts zu tun haben wollen, die das verdrängen.

Wo steht unsere Gesellschaft 30 Jahre nach dem Anschlag? Was hat sich verändert?

Wir haben nun eine Rassismusbeauftragte, zwar nur im Bund, aber immerhin – nach 30 Jahren. Eigentlich bräuchte es Rassismusbeauftragte in jeder Stadt, zumindest in jedem Bundesland. Auch was die sprachliche Auseinandersetzung mit Rassismus und Gewalt angeht, müssen wir tatsächlich noch Arbeit leisten. Wenn man hört, welche rassistische Sprache von manchen Politiker*innen benutzt wird, schlackern mir die Ohren. Andererseits gibt es auch viele Verbündete, viele leisten mehr Widerstand als vorher, zum Glück. Aber all das sind kleinere Schritte.

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Was wäre ein großer Schritt?

Menschen fällt es leichter, über Rechtsextremismus zu sprechen, weil man sich dann nicht selbst reflektieren muss und die eigenen Verstrickungen im strukturellen System nicht hinterfragen muss. Stephan Bundschuh (Prof. für Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, Anm. d. Red.) hat das auf den Punkt gebracht: Wer nicht über Rassismus sprechen will, sollte über Rechtsextremismus schweigen. Die Menschen, die rechte Gewalt ausüben, haben rassistisches Wissen, sind rassistisch. Ich sehe eine Schwierigkeit in dem, dass Menschen über Rechtsextremismus besser sprechen, aber Schwierigkeiten haben, über Rassismuskritik zu sprechen. Wir haben in Deutschland ein rassistisch gesellschaftliches und politisches Fundament. Politiker*innen machen heute noch (gewollt oder ungewollt) rassistische Äußerungen in der Öffentlichkeit. Ich finde, auch nach 30 Jahren nach dem Brandanschlag in Solingen fehlt die Sensibilisierung in der Gesellschaft und Politik in Bezug auf Rassismuskritik. Ohne rassistische Empfindungen können Menschen nicht zu Rechtsextremisten werden. Beide Ideologien werden kaum zusammengedacht.

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Hanau, Halle, der Mord an Walter Lübcke. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie sehen, dass es immer noch Rechtsextremismus gibt, er gar erstarkt?

Auch der Bericht des Innenministers und der der Opferberatungsstelle, dass rechte Gewalttaten gestiegen sind, ist total erschreckend. Aber verwunderlich ist es nicht. Wenn rassistische Anschläge in die Öffentlichkeit gelangen, herrscht Schock. Aber viele haben sich daran gewöhnt. Deutschland funktioniert nicht anders, das macht natürlich Angst. Ich habe nach der Selbstenttarnung der NSU gezwungenermaßen meine deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, dabei war es für mich nie so relevant. Nun habe ich auf dem Papier die deutsche Staatsbürgerschaft, gelte aber trotzdem als Person zweiter oder dritter Klasse. Das zeigt mir, dass man in Deutschland absolut nicht sicher ist. Und es gibt so viele Gewalttaten, die nicht in die Öffentlichkeit kommen. Wir versuchen, auf uns selbst aufzupassen, weil der Staat es nicht so gut hinbekommt.

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Warum ist das Erinnern an den Brandanschlag wichtig?

Die Erinnerungskultur in Solingen findet seit 1994, ein Jahr nach den Brandanschlägen, statt. Seitdem gibt es ein fortlaufendes Gedenken. Das hat aber auch die Familie Genç eingefordert. Das Erinnern und Gedenken ist sehr, sehr wichtig. Man darf die Menschen nicht vergessen, die aus rassistischer und extrem rechter Motivation ermordet worden sind. Für die Familie Genç ist es wichtig, dass die Namen der Opfer genannt werden. Das ist erst seit ein paar Jahren so. Früher gab es in Solingen eine stärkere Täterfokussierung. Erst nach der Selbstenttarnung der NSU hat Solingen sich mehr der Opferperspektive gewidmet. Trotzdem ist sie immer noch schwach. Deshalb hat die Familie Genç mich auf die Idee gebracht hat, die Betroffenenperspektive zu publizieren. In Solingen haben sich 30 Jahre lang so hässliche Narrative festgesetzt, die wahrscheinlich nicht mehr aus den Köpfen der Menschen herauszukriegen sind. So gibt es hier noch immer Zweifel an der Täterschaft. Das ist richtig übel. Hier braucht es tatsächlich sehr viel Arbeit aus der Betroffenenperspektive. Das ist wieder eine neue Arbeit, die auf uns zukommt, die Betroffenenperspektive in den Vordergrund zu rücken.

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Was wünschen Sie sich zum 30. Jahrestag?

Das Gedenken ist sehr politisiert, gefühlt kommt die halbe Bundesregierung, auch der Bundespräsident. Es geht auch ums Image, darum, sich zu zeigen. Ich hoffe dennoch, dass die Betroffenen Raum bekommen. Es gibt zwei Tage, an denen man gedenkt: Einmal – extrem politisiert – am 29. Mai, da kommen nur geladene Gäste. Dann gibt es eine Gedenkveranstaltung am 28. Mai. Familie Genç wünscht sich, an der Unteren Wernerstraße zu gedenken, dort, wo ihre fünf Familienangehörigen gestorben sind. Das ist ihr Erinnerungsort, nicht da, wo das Mahnmal steht. Wir wollen versuchen, die Menschen dort hinzulenken, um angemessen zu erinnern und zu trauern. Das ist mein Wunsch: Dass die Untere Wernerstraße von Menschen besucht wird, die sich solidarisch zeigen wollen.