Der Umgang mit Industriekultur an der Ruhr ist weltweit Spitze. Nach Pioniertaten der Vergangenheit sind Weichenstellungen für die Zukunft fällig
Als die schottische Krimischreiberin Val McDermid einmal durchs Ruhrgebiet fuhr, entging sie nur knapp einer Kinnladen-Starre: McDermid, die als Kind viel Zeit bei den Großeltern in einer schottischen Bergbau-Ortschaft verbracht hatte, fuhr hier in ihre Jugend zurück: „Bei uns“, sagte sie, „siehst du nichts mehr von den alten Zechen, alles dem Erdboden gleichgemacht, ausradiert.“
Das Ruhrgebiet von heute hat, von der überlebensnotwendigen Wasserhaltung einmal abgesehen, mit Bergbau noch weniger zu tun als Bayern mit fröhlichen Sennern und glücklichen Kühen auf saftigen Almwiesen. Und doch kursiert im Rest der Republik offenbar immer noch die Vorstellung von fliegenden Briketts und rußverschmierter Bergmannskluft. Warum sonst bekäme man von Auswärtigen keinen Satz häufiger zu hören als den, über den sich manche hier schon kohlrabenschwarz ärgern: „Das ist aber grün hier im Ruhrgebiet!“ Da ist man kurz davor, die Fingernägel vorzuzeigen, um klarzustellen, dass sie auch keine schwarzen Ränder mehr haben.
Alleinstellungsmerkmal Kohle und Stahl
Dass Auswärtige immer noch mit Qualm und Ruß aus Koksöfen rechnen, liegt vielleicht auch ein bisschen an der Industriekultur. Also dem möglichst originalen Erhalt alter Fabriken, Schlote, Hochöfen, Fördertürme und Zechenhallen, der Val McDermid aus dem Staunen nicht mehr rauskommen ließ. Und die Illusion zulässt, man könnte hier gleich wieder loslegen mit der Kohleförderung.
Die Industriekultur trägt enorm zum Geschichtsbewusstsein bei, zum echten Selbstbewusstsein des Ruhrgebiets. Und sie war lange Zeit das, was Kaufleute einen „Unique Selling Point“ nennen, ein vermarktbares Alleinstellungsmerkmal. Mit ihm hat sich die touristische Vermarktung des Reviers in ungeahnte Höhen aufschwingen können – Urlauber auf Halden statt in alpinen Regionen, wer hätte das vor drei Jahrzehnten für möglich gehalten! Die „Route der Industriekultur“, die aus Dutzenden von Teil- und Themenrouten bestehet, hat sich zu einem ungeahnten Kassenschlager entwickelt – und wird in anderen Regionen kopiert, etwa im Rhein-Main-Gebiet oder als „Nordbayerische Industriestraße“. Auch Sachsen hat seine Industriekultur entdeckt, und, war ja klar, auch ein „Berliner Zentrum Industriekultur“ gibt es inzwischen.
Ruhries: Einst unterm Rad, jetzt obenauf
Im Umgang mit seinem industriellen Erbe ist das Ruhrgebiet aber noch weit vorneweg. Nicht von ungefähr reisen Fachleute von China bis Chile nach Oberhausen und Meiderich, wenn sie wissen wollen, wie man am besten mit den baulichen und technischen Hinterlassenschaften des Industriezeitalters umgeht. Welche Erfahrungen es da gibt. Welche Irrwege man vermeiden, welche Abkürzungen man nehmen kann.
Die Industriekultur wäre aber nicht einmal halb so viel wert, wenn nicht die Menschen im Revier selber auch Gebrauch machen würden. Man blicke nur in all die stolzen, faszinierten Gesichter während der „Extraschicht“, der „Nacht der Industriekultur“, die nebenbei auch Jahr um Jahr beweist, dass ein sinnvoll ausgebauter öffentlicher Nahverkehr auch genutzt werden würde. Da staunt das Ruhrgebiet über sich selbst.
Ruhrgebiet „von hinten“
Und auch die neuen Radwege auf den alten Bahntrassen eröffnen ja nicht nur Touristen neue Einblicke. Da, wo einst die höhergelegten Zechen- und Stahlwerksbahnen verliefen, können sich nun zahllose Radler das Ruhrgebiet „von hinten“ ansehen. Und das auch noch von oben herab. Man glaubt ja nicht, wie viele Schrebergärten und Hinterhöfe einst an den Bahnstrecken gelegen haben müssen. Und noch immer genießen viele Ruhrgebietler, dass sie nun mit ihren Zweirädern, die längst nichts mehr von „Drahteseln“ haben, Vorfahrt auf den kurzen Wegen haben, die einst den Stahlrössern der Industrie gebaut wurden.
Was die Gebäude der Industriekultur betrifft, gibt es allerdings einen großen Unterschied. Wenn Menschen im Mittelalter angefangen haben, an einer Kirche, an einem Dom gar zu bauen, taten sie das im sicheren Bewusstsein, dass sie die Fertigstellung des Bauwerks selbst nicht mehr erleben würden. Sie taten es ja für einen höheren Zweck, glaubten womöglich, dem Paradies mit der Schufterei ein bisschen näher kommen zu können. Anders ging es bei den Bauten der Kohle- und Stahlindustrie im Revier zu: Bei Zechen, Kokereien, Gasometern war klar, dass sie eben keine Werke für die Ewigkeit waren, sondern Gebäude auf Zeit.
Zechen-Schloss Zollern gegen Zechen-Monster Zollverein
Manchmal versuchten die Bergbau-Unternehmen noch, sich gegenseitig, die Kundschaft und die eigene Belegschaft mit „Musterzechen“ zu beeindrucken – wie im Falle der Dortmunder Zeche Zollern II/IV, deren Maschinenhallen um die Jahrhundertwende in unverkleideter Stahlgerüst-Bauweise errichtet wurde. Ihre palastartige Lohnhalle setzte mustergültig die Einschüchterung derjenigen architektonisch ins Werk, die hier wöchentlich ihre Lohntüte abholten. Es war die erste vollelektrische Zeche im Revier, auch sonst mit modernster Technik ausgestattet, mit Jugendstil-Elementen, die noch mehr en vogue waren als der neogotische Zierrat einiger Fassaden.
Dass Zollern II/IV 1969 kurz vor dem Abriss unter Denkmalschutz gestellt wurde, war eine Pioniertat – bis dahin verschwanden Industriebauten sang- und klanglos von der Oberfläche. Aber Weltkulturerbe wurde 2001 nicht das „Zechen-Schloss“ im Dortmunder Stadtteil Bövinghausen, sondern Zollverein 12 und 1/2/8 in Essen-Katernberg. Eine monströse, Stein gewordene Rationalität, ein Hochamt aus Symmetrie und rechten Winkeln. Zu dessen vernünftig-profitablem Kalkül auch gehörte, dass das Ziegelmauerwerk nur einfach ausgeführt wurde. Man wusste ja schon mehr als man ahnte, dass auch die Kohle-Lagerstätten unter Zollverein nach rund einem halben Jahrhundert erschöpft sein würden. Ausgebeutet.
Keine „Kathedralen der Arbeit“, sondern nüchterne Zweckbauten
Das monströse Monument eines höchst effizienten Raubbaus an Geo-Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft ist deshalb nicht nur ein Denk-, sondern auch ein Mahnmal für die Exzesse einer Ära, die ein bis dato ungekanntes Ausmaß an Sicherheit und Wohlstand für eine maximale Zahl an Menschen erkauft hat mit einem Maximum an Kohlenstoff-Freisetzung, das höchste Gefahr und Unsicherheit für kommende Generationen bedeutet.
Die alten Gebäude der Industrie zu erhalten, war Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre ein neuer Gedanke. Der denkmalpflegerische Impuls, der davon ausgeht, dass wir nicht wissen können, was künftige Generationen für wichtig, schön und erhaltenswert befinden, galt bis dato nur für Schlosskapellen, Burgfriede und Fachwerkhäuser. Im Ruhrgebiet mussten ja selbst die altehrwürdigen Rathäuser von Essen und Dortmund (ältestes steinernes Rathaus nördlich der Alpen) für Kaufhäuser und Einkaufspassagen weichen. In den aufgelassenen Zechen, Hallen und Türmen von Kohle und Stahl Industriemuseen anzusiedeln, lag nahe. Es waren ja nicht „Kathedralen der Arbeit“, wie es heute gern so schönfärberisch wie unzutreffend heißt, als sei die gesundheitsschädigende, unterbezahlte Maloche eine Art religiöses Ritual gewesen und nicht nackte Schufterei zugunsten einer dünnen Schicht von Privilegierten und ohne Aussicht aufs Paradies. Es waren ja meist nüchterne Zweckbauten, an denen allein die Größe übermenschlich wirkte.
Messen, Modenschauen und Flohmärkte, Kitas und Büros
Dass die alten Industriebauten erhalten blieben, war ein Akt der Nachhaltigkeit, längst bevor das Wort zum Gegenbegriff zur Raubbau- und Verbrauchskultur des Industriezeitalters wurde. Aus Angst vor der Leere wurde, als es mehr als genug Industriemuseen gab, ein Festival wie die Ruhrtriennale hineingestopft. Als Pionierpflanze für solche Riesengebäude wie die Bochumer Jahrhunderthalle oder die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck hat die Ruhrtriennale ihren Zweck erfüllt; die Gebäude wurden millionenschwer ertüchtigt, so dass heute darin auch profane Dinge wie Messen, Modenschauen oder Flohmärkte stattfinden können.
Von diesen Umnutzungen, mit der die einmal ins Bauen investierte „graue Energie“ erhalten bleibt, können die Gebäude der Industriekultur noch viel mehr gebrauchen. Es gab für die alte Heizzentrale auf der Zeche Lohberg in Dinslaken ein Umnutzungskonzept, das eine Kindertagesstätte daraus machen wollte, unter denkmalgerechtem Erhalt der schon maroden Fassade. Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Pattberg im Norden von Moers wurde für eine „qualitätvolle Büronutzung“ freigegeben, nachdem sie 23 Jahre lang leer stand. Das Bauunternehmen, das dort einzog, ist stolz auf den einzigartigen Charakter seines neuen Bürohauses.
Werksschwimmbad Zollverein – und das nicht nur zur „Extraschicht“
Von derartigen Um- und Weiternutzungen jenseits der Musealisierung braucht die Industriekultur auch als Markenzeichen fürs Revier noch viel mehr. Sie sind ein ebenso praktischer wie zukunftsträchtiger Fortschritt im Umgang mit industrieller Architektur. Sinnbildlich dafür kann das Werksschwimmbad am Welterbe Zollverein stehen. Den denkmalpflegerischen Puristen ein Dorn im Auge – aber von hohem Reiz und Nutzen eben nicht nur für Touristen, sondern auch für die Menschen im Stadtteil.
Es wäre ein Schritt in Richtung Industriekultur fürs 21. Jahrhundert: klimatechnisch sinnvoll, für die Menschen nützlich und ein Weg, Geschichte nicht nur zu erhalten, sondern lebendig in die Gegenwart zu integrieren. Nicht nur einmal im Jahr bei der „Extraschicht“, sondern in den Dauerschichten des Alltags.
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