Essen. Theo Grütter, der Chef des Ruhrmuseums, spricht mit WAZ-Redakteur Frank Stenglein über die Rolle der Zeitung in der Region.

Herr Grütter, Sie stammen aus Gelsenkirchen, sind dort aufgewachsen. Was wurde zuhause gelesen?

Theo Grütter: Die WAZ. Obwohl mein Vater sehr konservativ war, und es damals auch andere Lokalzeitungen in Gelsenkirchen gab. In unserem Haus wohnten drei Familien und dreimal kam die WAZ.

Wäre es übertrieben zu sagen, dass die WAZ die Region und ihre Identität stark geprägt hat?

Grütter: Das ist Fakt. Die WAZ war seit ihrem Erscheinen 1948 die erste kulturelle Klammer des Ruhrgebiets und blieb lange Zeit die einzige. Die WAZ stieg auf, als das Ruhrgebiet seine gemeinsame Identität entdeckte, sie hat ganz klar das Ruhrgebiet als mentales Ereignis miterfunden.

WAZ-Mitbegründer Jakob Funke hat früh darauf gedrungen, dass die Zeitung sich aufs Ruhrgebiet konzentriert – und nicht, wie von den Briten geplant, in ganz NRW erscheint...

Grütter: ...und da muss Jakob Funke bereits eine klare Vorstellung gehabt haben vom Ruhrgebiet als einem zusammenhängenden Raum. Dass Kohle und Stahl überhaupt eine eigene Identität begründen können, wurde lange nicht begriffen. Im Ruhrgebiet ging es ab den frühen 1950er Jahren wirtschaftlich bergauf, und es gab deshalb natürlich auch enorme Bevölkerungs- und somit Leserzuwächse. Ein Riesenpotenzial, Region und Zeitung wuchsen parallel. Es war in jeder Hinsicht eine kluge Entscheidung der WAZ-Gründer. Eine NRW-Identität gab es erst viel später, das hätte 1948 als Klammer nicht funktioniert.

Die WAZ wollte nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst auch inhaltlich andere Akzente setzen.

Grütter: So ist es, und da muss man etwas ausholen. Die Weimarer Republik war die Zeit der Tendenzpresse mit einer enormen ideologischen Aufladung, und das Ruhrgebiet war eine politische Kampfarena, vergleichbar nur mit Berlin. Die WAZ mit ihrer bewusst überparteilichen Ausrichtung und ihrer eher ruhigen Machart ohne radikale Ausschläge nach links oder rechts, hat mit dem Verzicht auf emotionales Aufpeitschen viel dazu beigetragen, dass diese Polarisierung nach dem Zweiten Weltkrieg sich so nicht mehr wiederholen konnte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die WAZ sich hohe Verdienste erworben hat um die Befriedung und die demokratische Entwicklung im Ruhrgebiet – und damit indirekt in der jungen Bundesrepublik. Denn wenn die Ruhr politisch aus dem Ruder gelaufen wäre, hätte das schlimme Folgen fürs ganze Land gehabt.

Die Entwicklung im Ruhrgebiet

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Die Politik im Ruhrgebiet entwickelte sich in eine ähnliche Richtung.

Grütter: Sonst wäre es nicht möglich gewesen. Die politisch relativ ruhige Entwicklung gelang vor allem dank des Wandels der Sozialdemokratie, die das Ideologisieren in den 1950er Jahren dämpfte. Demokratische Parteien verstanden sich nicht mehr nur als Kampfeinheiten, sie wurden zu Kümmerern, wobei Arbeiten und Wohnen im Mittelpunkt standen.

Die WAZ war allerdings nicht sozialdemokratisch...

Grütter: ...aber doch deutlich sozialdemokratisiert, was auch die christliche Soziallehre der CDU einschloss. Die im Ruhrgebiet eher konservative SPD und die ebenso typischerweise im Bundesvergleich eher linke CDU waren doch gar nicht so weit auseinander. Und die WAZ passte da gut, hat den partnerschaftlichen Ansatz im Wirtschaftsleben mitvertreten und befördert. Man sei „entschieden sozial“, wie Erich Brost sagte. Aber die WAZ war eben keine Parteizeitung – im Unterschied zu anderen, die dieses Label dann zu ihrem Nachteil lange nicht loswurden.

Das dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass die WAZ zwar spät startete, dann aber beim wirtschaftlichen Erfolg alle anderen überholte.

Grütter: Ja, ganz sicher. Und das begründete wieder ihren enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung im Ruhrgebiet. Die Menschen haben fast alle das gleiche gelesen, heute in dieser Form schwer vorstellbar. Worüber hat man früher im Betrieb oder auf der Zeche gesprochen, beim gemeinsamen Anlegen der Arbeitskleidung, beim Einfahren oder in der Pause? Über das, was morgens in der Zeitung stand. Fast alle konnten da mitreden. Auch das war sehr wichtig für den Zusammenhalt im Ruhrgebiet.

WAZ und Identitätsfindung

Wenn es um die Rolle der WAZ bei der Identitätsfindung des Ruhrgebiets geht, kommt man an der legendären Figur „Kumpel Anton“ nicht vorbei, oder?

örderturm Schacht 2/5 wird eingerissen Friedrich Thyssen Duisburg Hamborn 1976
örderturm Schacht 2/5 wird eingerissen Friedrich Thyssen Duisburg Hamborn 1976

Grütter: Das war ganz entscheidend. Erst als das Ruhrgebiet begann, sich selbstironisch mit dem eigenen Dialekt und der eigenen Identität auseinanderzusetzen, war die Region ganz bei sich. Eine Region mit der Fähigkeit zum Humor ist von der Identität her stabil und kann sich humorvoll nach außen abgrenzen – und nicht etwa aggressiv. Da hat Kumpel Anton den Anfang gesetzt. Mit ihm war die WAZ sehr nah an den sogenannten kleinen Leuten, ohne sie zu verraten oder lächerlich zu machen.

Die WAZ hat dem Bergbau lange die Stange gehalten, auch als es schon unaufhaltsam wirtschaftlich mit dieser Branche bergab ging. Ein Fehler?

Grütter:Manche Schlaumeier kritisieren den langen Abschied von der Kohle. Doch wer das Siechtum und die sozialen Verwerfungen in Belgien oder England kennt, kann in dem sanften Ausstieg keinen grundsätzlichen Fehler erkennen. Bergbau ist eine Kernidentität des Ruhrgebiets, hat die Menschen tief geprägt. Es ist klar, dass die daraus resultierende Mentalität eine gewisse Widerständigkeit gegen ihr eigenes Ende entwickeln würde. Will man als Regionalzeitung dann etwa kühl sagen: Das kann alles weg? Das hätten die Leser überhaupt nicht verstanden.

Die Leser im Ruhrgebiet

Ein Liebling der Intellektuellen war die WAZ allerdings nicht gerade.

Grütter: Die Leser im Ruhrgebiet hatten nun mal andere Sorgen als das Feuilleton. Man kann der WAZ das nicht vorwerfen, sie musste sich entscheiden: Willst du ein Blatt für Bildungsbürger sein? Oder volkstümlich etwas für alle bieten? Der zweite Weg wurde beschritten, die WAZ wäre sonst ökonomisch gescheitert. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch berechtigte Kritik gab.

Nämlich?

Grütter: In den 1970er und 1980er Jahren war mir die WAZ zu brav, zu sehr Teil der sozialdemokratischen Hegemonie im Ruhrgebiet und in NRW. Es gab dann ja auch Bestrebungen, eine Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Begrüßt habe ich, dass die WAZ dann im neuen Jahrtausend eine Zeit lang die Ruhrstadt-Idee offensiv vertreten hat. Die Debatte war richtig, auch wenn der Glaube an die Realitätstauglichkeit mir im Nachhinein etwas blauäugig erscheint.

Wo sehen sie die Rolle der WAZ in Gegenwart und Zukunft?

Grütter: Die WAZ setzt stark auf das Lokale, das finde ich richtig und naheliegend. Aber sie muss auch das Diskussionsforum für die Entwicklung der Region sein. Es gibt nach wie vor kein anderes Medium mit dieser Breitenwirkung. Es kann nicht nur um das Beschreiben und Begleiten gehen, das wäre zu wenig. Die WAZ muss Debatten anstoßen, Themen setzen. Wer sonst soll es machen? Für meinen Geschmack könnte es da noch etwas aktiver zugehen.

Wünschen Sie sich auch etwas in ihrer Funktion als Historiker?

Grütter: Die WAZ muss auch weiterhin die große Geschichte dieser Region erzählen. Dieses Narrativ und damit die Identität zu pflegen und gleichzeitig nach vorne zu schauen – das ist kein Widerspruch, überhaupt nicht. Das gehört zusammen.

Redakteure erklären ihre Liebe zum Ruhrgebiet

 

Duisburg ist was für Macher, nicht für Erzähler! Es ist die Stadt des Wassers, der Maloche, der Natur, des Stahls, des Hafens –  und das Zuhause für Menschen aus über 170 Nationen.“ Thomas Richter, Redaktion Duisburg

 

Stehse auffem Gasometer im Sturmesbrausen und alles, watte siehst, is Oberhausen / zehntausend Plätze, um Bier zu konsumieren, und jede Menge Büsche, sein Herz zu verlieren. Am Sonntag im Kaisergarten sich küssen, bei den Hängebauchschweinen die Tiger vermissen, andere Städte haben auch einen Zoo, aber so wie bei uns issat nirgendwo (nirgendwoho) ...“Missfits, eingesendet von der Lokalredaktion Oberhausen

 

Mülheim hat die Ruhr, lebt an der Ruhr, liebt die Ruhr. Der Fluss ist die Lebensader, die die Menschen antreibt zu Aktivitäten, bürgerschaftlichem Engagement und Brückenbau. Die Perle des Ruhrgebiets glänzt viel Grün, nicht nur entlang des Blaus. In Mülheim leben alle Generationen gerne miteinander.“Katja Bauer, Redaktion Mülheim

 

Bodenständig, weil diese Stadt Heimat bietet. Offen, weil es sich damit am ehrlichsten lebt. Tolerant, weil das eine Tugend der Bergleute ist. Tatkräftig, weil Stillstand keinen Wandel erzeugt. Respektvoll, weil gute Nachbarschaft hier Tradition hat. Optimistisch, weil mit Innovation City Zukunft entsteht. Pragmatisch, weil Schwärmerei den Kumpels nie lag.Michael Friese, Reda

 

Grau, aber immerhin“. Der Spruch von Werbe-Altmeister Vilim Vasata ist immer noch einer der prägnantesten über Essen, weil er die immer etwas peinliche Feierlichkeit ironisch bricht und natürlich auch nicht wirklich stimmt. Aber es ist doch auch einiges Wahre dran.“Frank Stenglein, Redaktion Essen

 

 „Gelsenkirchen muss man nicht lieben, kann man aber. Wer Herkules hat und 60 Jahre keinen Titel und dabei nicht verzweifelt, wer Historie und Moderne verbindet, der zeigt Weitsicht, Wagemut, Ausdauer, Herz, Stolz, Liebe und Tatkraft – also alles, was eine Stadt braucht.“Jörn Stender, Redaktion Gelsenkirchen

 

Bochum, ich komm aus Dir: WAZ!“  (Die Zeitung wurde hier gegründet.)Die Lokalredaktion

 

Bei uns in Velbert gibt es ein Schloss und ganz viele Schlösser. Wir sind das Wanderparadies vor der Haustür.“Yvonne Szabo, Redaktion Velbert

 

Wir sind der Mittelpunkt des Reviers. Bei uns geht’s immer rund, nicht nur auf Crange. Wir sind grau und wir sind grün. In Herne wohn’ ich gerne.“Michael Muscheid, Redaktion Herne

 

Hattingen ist die Altstadt des Ruhrgebiets. Hattingen hat Industriekultur und Zukunftsvisonen. Hattingen hat Natur und Natürlichkeit. Hattingen ist lebens- und liebenswert. Hattingen ist Heimat.Michael Brandhoff, Redaktion Hattingen

 

Recklinghausen hat vielleicht das einzige Theater mit angegliedertem Zoo: Pfaue, Ziegen, Schafe, Affen. Manchmal ist man bei den Ruhrfestspielen nicht sicher, ob jemand den Käfig offen gelassen hat. Das ist wundervoll!“Lars von der Gönna, Kultur-Redaktion.

 

 „Wo früher Stahl geschmolzen wurde, liegen jetzt Segelboote im Hafen. In der alten Brauerei steckt Kunst. Statt Kohle werden nun kreative Typen gefördert. Und über allem schlägt ein großes schwarzgelbes Herz. Dortmund ist wie die gemischte Tüte von der Bude: von allem etwas und ganz schön lecker.“Kirsten Simon, Redakteurin aus Dortmund

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