Bochum. . Der Zusteller Harry Ebert bringt die Zeitung – und drei andere spannende Geschichten von Menschen bei der WAZ.
Die Wetter-App hat „kalt“ gesagt, und sie hat so recht. Harry Ebert checkt das immer zuerst, „jeden Morgen“, sagt er, dabei ist „Morgen“ relativ: Es ist viertel vor zwei in der Nacht, als der 65-Jährige seinen Wecker ausschaltet, ein schnelles Käffchen trinkt und nach der Temperatur guckt. Minusgrade in Bochum. Heute wird das Zeitungs-Austragen eine Rutschpartie. Aber Harry – Jogginghose, sehr waches Lachen, „Denn mal los!“ – trägt nicht mal Handschuhe!
„Jeden Morgen das gleiche Spiel“, sagt Harry Ebert fröhlich, als er an einer Bushaltestelle „seine“ Zeitungspakete unter den Arm klemmt. Nach Bezirken sortiert stapelt er sie vor dem Beifahrersitz, zum „Aufreißen“ hat er eine Schere dabei. „Ich bin ein Ordnungsfanatiker.“ Es ist 2.26 Uhr, Nebel wabert um den Fahrplan, um 4.17 Uhr fährt der erste Bus zum Krankenhaus. Dann hat Harry den ersten von zwei Bezirken längst durch.
Manche Leser wollen ihre Zeitung schon um fünf Uhr
Es gibt Leute, weiß Ebert, die ihre Zeitung schon um fünf Uhr haben wollen, „aber meine schlafen alle lange“. Er nennt die Abonnenten „meine Kunden“ und seine Bezirke, ein Stück Werne, ein Stück Langendreer, „mein Wohnzimmer“. Er achtet auch ein bisschen darauf: „Dass alles seine Ordnung hat.“ Augen und Ohren sind immer offen, „in alle Richtungen“.
Der Zustellbezirk ist zu groß um zu laufen, aber das Auto fährt nie weit. Das Radio – Schlagermusik auf WDR4 – macht Harry Ebert leise, er will niemanden wecken. Dann steigt er schon wieder aus, drei Zeitungen unter dem Arm, 14 Zeitungen, „am Anfang war es schwierig, jedes Haus zu suchen“. Es ist ja dunkel und in dieser Nacht spiegelglatt. Wie glatt, erkennt Ebert an den Steinen der Auffahrten, am Glitzern der Gehwegplatten. Er versucht, sich nicht festzuhalten, aber woran auch. Die Straße ist abschüssig, aber er muss sie auch wieder hoch, nennt sie den „Berg der Verzweiflung“.
Harry liebt seine Nächte auf der Straße
Den Job als „Bote“ hat Harry Ebert vor zwei Jahren begonnen, er suchte den „sportlichen Ausgleich“, aber vielleicht war es auch seine Frau, die ihn suchte: „Harry“, sagte sie dem frischgebackenen Rentner, „du nimmst zu“. So hat Ebert angefangen, und er liebt seine Nächte auf der Straße. So wie die Kälte, die er „herrlich“ findet, und überhaupt jedes Wetter: „Das macht mir nichts aus, ich war früher Jugendtrainer.“ Er hat seine Tricks, wie die WAZ nicht nass wird: kurze Wege und immer die äußere zuerst „stecken“.
Er weiß genau, wer an welchem Tag die WAZ bekommt, es gibt ja auch Wochenend-Abos oder Kunden, die für den Urlaub abbestellen. Für zwei Häuser hat er einen Schlüssel, er schleicht sich hinein, wenn es klappert, ist er sauer: „Man versucht ja, so leise wie möglich zu sein.“ Manchmal liegt es aber auch am Briefkasten. „Dass die Leute sich nichts Leises bauen können!“
Sonst hat Harry, der Spaßvogel, wenig Sorgen da draußen. Nur um seinen Sohn, eines von vier Kindern, der den gleichen Job macht, aber danach nicht ins Bett geht wie sein Vater, sondern in seinen „richtigen“ Beruf. Und um seine 140 Zeitungen. Wenn am Ende der Straße noch eine übrig ist, dann rotiert er: „Wo haste eine vergessen?“
Jetzt gerade ist das so, aber das könnte an der ungewohnten Begleitung liegen. „Mein Gehirn sagt mir, wenn was falsch ist. Aber es kommt keine Meldung.“ Harry Ebert hat sich einfach verzählt.
Der Mann, der der Kanzlerin das Wasser reichte
Die WAZ hat ihre eigenen Postboten, die einzigen Menschen wohl, die den Weg kennen durchs Labyrinth der alten fünf Verlagshäuser – und alle Menschen darin. Die um deren Marotten wissen: Chefs, die pfeifen, wenn niemand anderem danach ist, die am Sudoku verzweifeln, und wer Fan von welchem Fußballverein ist. Uwe Hoch ist so einer, der seit 28 Jahren zur Familie gehört, er bringt die Briefe, aber immer auch einen fröhlichen Gruß, ein freundliches Wort, einen dummen Spruch.
„Na, meine Lieblings-Zecke, wie war dein Wochenende?“, wird er die schwarz-gelbe Reporterin nach einer Dortmunder Niederlage am Montag fragen, während er ihr liebenswürdig die Post auf den Tisch legt. Wenn „sie“ aber im Derby gewonnen hat, dann gibt er den Kaffee aus. So ist unser Uwe, der einzige Schalker, den auch Borussen mögen, jedenfalls bei der WAZ. Es gibt Kollegen, die nennen ihn ihren „Sonnenschein“, dabei ist er eher der Typ Ruhr-Schnauze.
Liebe zum Revier
Uwe Hoch, der Gelsenkirchener in der Essener Poststelle, lebt das Revier und spricht in seinem Tonfall. Und er liest seine Zeitung, deren Ausgaben er kiloweise in alle Abteilungen trägt, „von vorne bis hinten“. Jeden Tag, „damit ich weiß, was so passiert ist im Ruhrgebiet“. Oft, er ist ja in der Redaktion dabei, weiß er schon am Vortag, „wattet Neuet gibt, aber ich sag’ noch nix“. Nicht einmal, wenn er in der Sportredaktion etwas läuten gehört hat von einem prominenten Spielerwechsel. . .
Wenn Hoch, 55, sagt: „Ich hab’ sie alle gehabt“, dann ist das nicht anzüglich, so ist der Uwe nicht. Er meint auch tatsächlich keine Frauen: Er meint vier Chefredakteure, längst ausgeschiedene Urgesteine, unvergessene Ressortleiter – und eine Kanzlerin, der er beim Redaktionsbesuch das Wasser reichte. Die von der WAZ kennt er alle, vielen hat er die Post gebracht, auf die sie warteten. Ist gerannt, um Tabellen aus dem Nachrichtenticker zu holen, gewetzt durch die Etagen, um den Wetterbericht zu organisieren, er trug Fotos hin und her, und zum Fest schleppte er 17 Kisten mit Postkarten – die Lösungen des Weihnachtsrätsels. Noch heute sind der Briefe oft so viele, dass er mit einem Wagen kommt.
Viel erlebt
Für den ehemaligen Sport-Chef schaute er in vor-digitalen Zeiten Fußball, während Hans-Josef Justen kommentierte, „und wenn was passiert ist, musste ich schreien“. Hin und wieder wurde er einst auf ein Päuschen gebeten beim Gründungs-Chefredakteur der WAZ, Erich Brost. „Da menschelte es.“
Manches Mal ist es knapp geworden in jenen Jahren. Stau in der Rohrpost, Rennbahn-Ergebnisse zu spät, irgendwo noch ein Loch im Blatt. „Aber es konnte passieren, was wollte“, sagt der Hausbote Hoch, „die Zeitung ist immer rausgekommen.“
Bürgermeister oder Bischof: Alle kennen „Daggi“
Vielleicht ist eine Sekretärin nicht allein das Gesicht der Zeitung, sicher aber ihre Stimme. „Lokalredaktion, Assauer, Guten Tag!“, so klingt in freundlichem Singsang Gelsenkirchen, früher hörte sich Essen so an. Bei Dagmar Assauer landen Leser, die Fragen haben oder Klagen; über Müll, Leerstand und „was den Leuten so auffällt in ihrer Stadt“. So hat die Frau im Sekretariat schon so manche Geschichte für den WAZ-Lokalteil „an Land gezogen“.
Die inzwischen 60-Jährige hat einst Architektur studiert, aber sie wollte nie ins Büro, immer „auf die Baustelle“. Gewissermaßen hat sich der Wunsch also trotzdem erfüllt, Zeitungsseiten sind immer eine Art Baustelle, bis sie in den Druck gehen, jeden Tag neu. Und wenn in der Redaktion die Technik streikt, dann rufen alle nach „Daggi“: Kannst du? „Klar.“ So hat sie in Essen einst das Fotoarchiv aufgebaut und gepflegt, so hat sie später den Veranstaltungskalender und seine Datenbank mit ans Laufen gebracht.
Auf dem Laufenden bleiben
So sitzt sie heute vor Bildschirm, Telefon und Pinnwand. Dagmar Assauer sorgt dafür, dass in Gelsenkirchen alle Termine stimmen, rührt jede Woche aus 130 festen Einträgen eine neue Mischung – und weiß dabei immer, „was Sache ist“. Besonders in der Kultur, ihr gilt ihre Liebe, und dass die Szene in Gelsenkirchen eine solch lebendige ist, hat sie „positiv überrascht“.
Dagmar Assauer mag es, auf dem Laufenden zu sein, dazu den Kontakt mit den Menschen, auch mit bekannten. Als sie noch in Essen arbeitete, besuchten Bischof und Bürgermeister die Redaktion, auch Stars, die in der Grugahalle auftreten sollten, schauten vorher an der Friedrichstraße vorbei. Assauer organisierte, pflegte das Gästebuch, hielt Kontakt. Sie hatte die Handynummer des Krupp-Granden Berthold Beitz, „da bin ich heute noch stolz drauf“. Viele, die in Essen erst groß wurden, kannte sie „von Anfang an“. Und, ehrlich, alle kennen Daggi.
Wer von Ihnen, liebe Leser, diese Frage also immer schon mal stellen, wollte, hier ist die Antwort: Ja, Daggi Assauer ist mit dem Assauer verwandt (der Name, sagt sie, „ist in Gelsenkirchen manchmal hilfreich“). Der große alte Schalker ist ihr Onkel.
Um elf Uhr abends muss „die erste Gute“ fertig sein
Mit dem Schlusspfiff im Stadion beginnt Andreas Schäfers zu rennen. Es ist schon wieder spät geworden, die Sportredaktion schiebt das aktuelle Ergebnis nach und der Drucker die Platte. Es ist zehn vor elf am Abend, um 23 Uhr muss „die erste Gute“ fertig sein. Aber „für ein Fußballergebnis“ hält der Schichtführer „auch um 23.15 Uhr die Maschine an“.
Es riecht nach Farbe und Öl in der Druckerei der WAZ in Essen. Bis gerade eben ist es noch ruhig gewesen, die Mitarbeiter haben das Papier eingespannt, die Rolle bis zu 1,5 Tonnen schwer, sie haben die Spannung der Bahnen geprüft, acht Farben pro Druckturm kontrolliert, die ersten belichteten Seitenplatten eingehängt. Was, wenn die nun eilig dazwischengehängte „Sport A“ in der Eile an die falsche Stelle kommt, sagen wir: zwischen die Stadtteilseiten oder mitten in die Kultur? Andreas Schäfers klemmt die Daumen hinter die Träger seiner blauen Latzhose und guckt so durchdringend wie fragend. „Man baut hier“, sagt er sehr langsam, „erst Platten ein, wenn man weiß, wo sie hingehören.“ Es dürfen, hat sein Chef eben gesagt, „keine Fehler gemacht werden“.
Immer unter Druck
Schäfers, 55, findet gut, dass man „immer unter Druck steht“, und dass dies eine bemerkenswerte Formulierung ist an diesem Ort, merkt er gar nicht. 34 Jahre ist er dabei, hat angefangen, als man in der Druckerei noch im Farbnebel stand und schwere Bleiplatten schleppte. Damals hat er im wahren Wortsinn „am Rad gedreht“, heute steht er am Monitor.
Zehn vor elf, als die acht Maschinen schnauben und alle gleichzeitig loslegen, sie heulen auf, drehen immer schneller, Schäfers greift die erste Zeitung und hält sie wie ein Buch: Eine Hand am Knick, die andere blättert. Noch etwas Magenta, weniger Gelb, liegt der Seitenkopf auf derselben Höhe? Schäfers steuert mit dem Computer, „jetzt ist die schon schön“, sagt er nach wenigen Minuten. Um elf muss „Essen-Süd“ im Versand sein, schluckt dort die Beilagen und wandert an die Rampe, ab in den Lieferwagen!
Andreas Schäfers mag diese Nachtschichten, er mag die Gemeinschaft und dass er jedes Jahr etwas Neues lernt, weil die Technik sich entwickelt. „Es ist nie stupide.“ Wenn er früh nach Hause kommt, ist er „grob informiert“, was in der Welt passiert ist, „man kann schon mal linsen, was einen interessiert“. Und er hat es mit „seiner“ großen Maschine 65.000-mal gedruckt.