Essen. Interviews mit dem eigenen Vater, dem Dalai Lama, einer Königin, der Tod von Möllemann und Spenden unserer Leser - Erinnerungen unserer Reporter.
Das Interview mit meinem Vater - Von Rusen Tayfur
Über Menschen zu schreiben, das ist für mich das Faszinierendste an meinem Beruf. Jemand kommt rein, wirkt völlig unscheinbar, und öffnet dir dann sein Herz. Erzählt, was er Spannendes erlebt und getan hat. Ich lausche, stelle Fragen, versuche seine Zunge zu lockern. Wie einen Film sehe ich mir das fremde Leben an. Später setze ich die Puzzleteile in Textform neu zusammen.
Einmal jedoch, da habe ich über mein eigenes Leben geschrieben. Naja, fast: Es ging um die Einwanderungsgeschichte meines Vaters. Darum, wie er anno 1969 als abenteuerlustiger Mann nach Deutschland kam. War das schwierig! Mit Block und Stift den Papa befragen, mit ernster Miene, schließlich wollte ich ganz neutral sein. Ein unmögliches Unterfangen.
Der Artikel war mehrere hundert Zeilen zu lang, ohne einen lieben Freund hätte ich niemals einen roten Faden hineinbekommen. Und trotzdem: Das Ergebnis war wie das Sahnehäubchen auf meine bisherigen Menschen-Porträts. Vor allem wegen der Reaktionen vieler Leser. Sie waren gerührt. Und mein Vater, der war stolz. Auch Journalistinnen sind manchmal nur Töchter.
Der Tag, an dem Möllemann starb - von Christina Wandt
Es war ein Frühsommertag 2003 und wenig los im politischen Berlin. Im Hauptstadtbüro überlegten wir morgens, ob man nicht wenigstens Anzeichen für einen klitzekleinen rot-grünen Koalitionskrach entdecken könne. Der Berliner Betrieb hatte das Tempo gedrosselt, die Sonne schien. Ich war vormittags beim Blutspenden in der Charité gewesen und nun im Regierungsviertel unterwegs, als mein Kollege anrief: „Möllemann ist tot.“ Jeden Moment trete Parteichef Guido Westerwelle im Reichstag vor die Presse, er selbst sei schon unterwegs dorthin.
Da die FDP in mein Ressort fiel, schwang ich mich aufs Rad, raste zum Reichstag, erduldete die Sicherheitskontrolle, eilte auf die Fraktionsebene, wo fast die gesamte Hauptstadtpresse vor den Büros der Liberalen stand. Dieses Warten im Pulk - das Vibrieren vor geschlossenen Türen, Gerüchte, Geraune, Angespanntheit - gehört zu den Kernkompetenzen eines Korrespondenten, es kann Stunden dauern oder ganze Nächte.
Für mich dauerte es diesmal ganz kurz: Kaum hatte ich mich zwischen den Kollegen platziert, sank ich zu Boden. Publikumswirksamer kann man nicht ohnmächtig werden: Die junge Kollegin nimmt der Tod von Jürgen Möllemann so mit!
Tatsächlich fehlte der Kollegin ein halber Liter Blut, Hitze und Hetze hatten ein übriges getan. Und die angeblich so rücksichtslose Berliner Meute?
Kollegen verließen ihre Pole-Position, betteten mich auf eine Bank, holten Cola, kümmerten sich. Bis zu Westerwelles Statement zu Möllemanns tödlichem Fallschirmsprung war ich wieder fit. Breaking News, die mich eigentümlich berührten. Nicht lange vorher hatte Möllemann bei einem Termin gefragt: „Frau Wandt, wollen wir mal einen Tandemsprung machen?“
Friedhof der Konzertflügel - von Stefan Schulte
Mein schönstes Erlebnis als WAZ-Redakteur? Es muss der Besuch des letzten großen Karpfenzüchters gewesen sein in Dülmen, der seine Zigarre die ganzen zwei Stunden nicht einmal aus dem Mund nahm, aber doch so vieles über seine von der Banausenmehrheit verschmähten Fische erzählte, das ich noch nicht wusste. Aber nein, es war der sehr frühe Morgen in der Konditorei am Essener Stadtwald, die mich schon beim Blick durch die Schaufensterscheibe mit dem stillen Gemälde der unter dem einzigen Licht im hinteren Teil der Stube bedächtig Schokoladencreme anrührenden Zuckerbäckerin unter der violetten Haarhaube gefangen hatte.
Aber eigentlich auch nur, weil das Gedächtnis faul ist und ihm die fernere Vergangenheit mehr abverlangt. Sonst würde an dieser Stelle ganz sicher etwas zur Tuchfühlung stehen, die anarchische Kunstausstellung, die das ländliche Langenberg im Sommer 2000 einnahm. Mit stählernen Körperumrissen an den unmöglichsten Orten und dem denkbar unmöglichsten Arrangement auf einem alten Friedhof: 113 ausrangierte Konzertflügel, frei zur weiteren Zerstörung. Als kulturferner Volontär mit einer Schwäche für rationale Zahlen war ich genau der Falsche, dies professionell zu begleiten. Nur war professionelle Begleitung auch das Letzte, was das bunte Künstlervolk wollte. Es war wunderbar.
Der eilige Heilige - von Thomas Mader
Der Dalai Lama hat einen harten Händedruck. Fast zackig weist er uns vier Journalisten 2007 in Wiesbaden unsere Plätze zu. Trotz seiner Geschäftsmäßigkeit ruht der Dalai Lama in sich selbst, das spüre ich wohl. Nach der spirituellen Aura forsche ich, aber finde in mir keinen Widerhall, da ist vor allem die Verwunderung und der Stolz, mit dieser Figur der Weltgeschichte zu reden. Vielleicht bin ich auch nur zu angespannt. Es hat keine Gelegenheit gegeben, mit den Kollegen eine Interviewlinie abzusprechen, so springt das Gespräch, und der Dalai Lama ist sehr höflich: Je unpräziser die Fragen, desto ausführlicher die Antworten. Das Handy eines Kollegen klingelt zweimal.
Ich versuche trotzdem offen zu bleiben. Er will allen Menschen als Mensch begegnen, sagt der Dalai Lama. Dann steht er abrupt auf. Die Dreiviertelstunde ist vorüber. Zum Abschied tauscht man einen Schal mit dem Gottkönig, der wohl keiner sein will, ein Adjutant hat uns einen zugesteckt. Der Kollege hat seinen bereits dem Dalai Lama umgehängt und einen neuen empfangen, ich fummle meinen noch aus der Plastikhülle. Der Dalai Lama wartet. Nicht länger als zwei Sekunden. Dann nimmt er meine Hände samt Schal und führt sie sich zum Hals.
Und tatsächlich, in dieser Eile ist wieder Ruhe zu spüren.
Die Königin, das ist übrigens die Linke - von Britta Bingmann
Einmal Königin sein, das hab ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht. Es hat (bislang) nicht geklappt. Aber wenigstens hab ich mit einer gesprochen. Und das war fast genauso schön.
Beim Steiger Award 2012 in der Bochumer Jahrhunderthalle durfte ich Königin Silvia von Schweden interviewen. Nicht bei einer Pressekonferenz als eine von vielen, sondern ganz exklusiv, nur Silvia und ich.
Die Nicht-Königstreuen unter ihnen mögen jetzt denken: „Na und? Die ist doch auch nur ein Mensch - und außerdem eigentlich eine Bürgerliche.“ Aber ich kann ihnen versichern: Es war etwas ganz Besonderes. Denn auch wenn unsere Silvia - immerhin die einzige deutsche Königin - keine Krone auf dem Kopf hat: Sie strahlt etwas außergewöhnlich Königliches aus, mit ihrer Haltung, ihrem Auftreten.
Eigentlich wollte sie über ihre Charity-Aktivitäten reden, aber immerhin durfte ich ihr vorab zur Geburt ihres ersten Enkels gratulieren. Und für ein paar Minuten waren wir uns so in der Freude über das Baby ganz nah. Königin Silvia wird sich daran vermutlich nicht erinnern. Ich werde es hingegen nicht so schnell vergessen.
Und schließlich fiel dann sogar doch noch königlicher Glanz für mich ab, ein bisschen nur, festgehalten in zwei kleinen Buchstaben. Die Kollegen schrieben in die Bildzeile: WAZ-Redakteurin Britta Bingmann mit Königin Silvia (li.)...
Mister X findet seine Familie - von Michael Hermes
„Mann ohne Gedächnis hofft auf WAZ-Leser – Thorsten lebt als ,Mister X’ in Rotterdamer Klinik - die Überschrift meines Aufmachers auf der Seite „Aus dem Westen“ (heute Rhein-Ruhr), Mitte Dezember 1993. Tags zuvor hatte das „academisch Ziekenhuis“ in der Redaktion angerufen, sie hätten seit über einen Monat einen Patienten mit hessisch-pfälzischem Akzent, der seinen Nachnamen und seine Herkunft vergessen habe. Aber Dortmund, das hätte die Hypnose ergeben, würde ihm etwas sagen.
Kaum aufgelegt, brausten Fotoredakteur Hans Blossey und ich, der Volontär, gen Rotterdam, im Gepäck Bilder von Dortmund. Und in der Tat: Thorsten, am Strand von Scheveningen gefunden, erkennt die Westfalenhalle und BVB-Star Chapuisat, verliert seine Scheu und lächelt sogar beim Abschied: „Hoffentlich hilft’s was, ich wäre Weihnachten gerne zu Hause.“
Der Leser-Aufruf hat Erfolg: An einer Berufsschule in Oberhausen nimmt sich ein Schüler in der Pause die auf dem Tisch liegende WAZ, erkennt Thorsten als Bruder eines Bekannten, der in Dortmund lebte. „Mister X“ erhält seinen Nachnamen zurück und weit weg vom Ruhrgebiet seine Familie.
Die Freude der traurigen Kinder erdet - von Annika Fischer
Diese kleine, magere, unendlich schmutzige Hand in meiner: Nesanet ist erst elf, sie wohnt allein im Dreck der äthiopischen Stadt Dire Dawa, ein Straßenkind. Körper und Seele sind voller Narben, aber ihre dunklen Augen voller Vertrauen.
Oder Fadi, der syrische Flüchtlingsjunge im Libanon: wie glücklich er ist über diesen rostigen Nagel in der Wand, an dem sein blauer Schulkittel hängt. Fadi ist elf, er hat sich das Entsetzen über den Krieg von der Seele gemalt, und jetzt lernt er schreiben.
Oder Marleni, das leise Mädchen in Guatemala, das nie sprach und mir, der Fremden, nun von seinem Leben erzählt. Von 13 Jahren voller Gewalt und Missbrauch, die sie hatten verstummen lassen
Ich darf sie kennenlernen, Nesanet, Fadi, Marleni und so viele andere, und ihre Geschichten weitererzählen. Obwohl sie nicht verstehen, dass es in Deutschland Leser einer Zeitung gibt, die ihnen helfen, weil ihr Schicksal sie berührt hat. Indem sie Geld geben für die alljährliche Weihnachts-Spendenaktion von WAZ und Kindernothilfe. Die Freude dieser traurigen Kinder erdet. Und Ihre Spenden, das habe ich vor Ort gesehen, machen die Welt ein kleines bisschen besser.
Die Sprengmeisterin und was ihr Angst macht - von Ute Schwarzwald
Ein Tiger! Ein leibhaftiger, riesiger, sibirischer Tiger stürmte an jenem Novembermorgen 1991 auf einem menschenleeren Feld in Witten in gewaltigen Sätzen auf mich zu. Das Interview mit Nicolaj Pawlenko hatte ich gerade beendet, dem „Karajan im Raubtierkäfig“ des Moskauer Staatszirkus’, der damals in der Stadt gastierte. Doch der Tiger fraß die schockstarre Reporterin nicht, er legte sich nur auf ihre Füße; sein Dompteur erinnert sich sicher noch heute gern an den kleinen Spaß...
Eines MEINER denkwürdigsten Erlebnisse fand in einem anderen Winter, auf einem anderen Feld statt, 22 Jahre später. An einem Dezembermorgen 2013 in Dortmund, den ich mit Tanya Beimel verbrachte. Mit ihr und einer Fünf-Zentner-Weltkriegs-Bombe. NRWs erste Sprengmeisterin entschärfte den Blindgänger, ich schaute zu. Und war fasziniert von der Ruhe, die die 44-Jährige ausstrahlte; von der Begeisterung, die sie für ihren lebensgefährlichen Job aufbrachte; dem unbändigen Willen, mit dem sie ihn sich erkämpft hatte. „Keine Standardsituation heute“, befand die Warendorferin fröhlich, als sie entdeckte, dass die Bombe echt vertrackt war. Die Frau muss Nerven wie Drahtseile haben, dachte ich.
Bis Tanya Beimel gestand, dass sie gar nicht so furchtlos sei. Was ihr wahre Angst einflöße, seien (nein, nicht Tiger): Silversterböller!
Wir tischlern einen Sarg für die Nachbarin - von Lars von der Gönna
Das größte Geschenk in diesem Beruf ist für mich nicht die Begegnung mit großen Operndiven und berühmten Regisseuren. Es ist die Nähe zu Menschen, wie sie in ihrer Direktheit und zupackenden Hilfsbereitschaft vielleicht nur das Ruhrgebiet hervorbringt.
Vor über 20 Jahren durfte ich zwei Studentinnen begegnen, die etwas Unglaubliches getan hatten. Sie waren mit ihrer WG zu Nachbarinnen einer alten, ziemlich kranken, ziemlich armen Frau geworden. Sie plauderten mit ihr, halfen ab und zu beim Einkauf. Eines aber hatte die Greisin ihnen immer wieder gesagt: „Wenn es mal aus ist, will ich keine Feuerbestattung!“ Als es aus war, pochte das Amt auf: Feuerbestattung bei Mittellosen.
„Und wenn wir selbst einen Sarg tischlern?“ Tatsächlich hatte eine der beiden vor dem Architekturstudium ein Handwerk gelernt und Werkzeug hatte sie auch. Ich weiß nicht mehr, wie die beiden jungen Frauen das hingekriegt haben - den Blick des Sachbearbeiters hätte ich zu gern gesehen - aber es ging. So entstand in einem studentischen Essener Wohnzimmer ein letzter Gruß für eine Frau, die man doch nur vom Plausch auf dem Flur gekannt hatte. Bis heute rührt mich dieser Akt der Menschlichkeit. Auf der Trauerfeier waren die beiden die einzigen Gäste. Als ich das damals aufschrieb, kämpfte ich tatsächlich mit den Tränen.