Mülheim. . Rudolf Groß, langjähriger Chef der Psychiatrie am Marien-Hospital, geht in den Ruhestand. Ärzte sehen öfter Patienten, die sich selbst verletzen.
Dr. Rudolf Groß ist als langjähriger Chefarzt der Klinik und der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des St. Marien-Hospitals zum Jahresende in den Ruhestand gegangen. Der 65-jährige Psychiater hat die (Tages)-Klinik seit Mai 1985 aufgebaut und damit beinahe 34 Jahre in Mülheim gewirkt.
Wo und wie kamen Sie überhaupt zur Psychiatrie?
Dr. Rudolf Groß: Ich habe in Saarbrücken-Homburg im Saarland Medizin und Psychologie studiert, ich komme ja aus der Gegend von Saarlouis. Das Interesse an der Psychiatrie resultierte daraus, dass ich als Jugendlicher schon sehr beeindruckt war von den Schriften von Sigmund Freund. Ich bin Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie geworden, weil mich der Mensch in seiner Gesamtheit interessiert und die Psychiatrie sich am intensivsten mit dem Menschen an sich beschäftigt.
Wie meinen Sie das?
Man sieht die Krankheit in der Regel nicht. Wir haben es mit Leuten zu tun, die von ihrer Umwelt nicht mehr verstanden werden. In der Psychiatrie muss man versuchen, den Menschen in seinem So-Sein zu verstehen. Wir müssen sein Erleben begreifen, verstehen, wie er denkt und fühlt. Wir müssen wissen, wie und warum ein Mensch tickt. Es kommt darauf an, sich dessen immer wieder zu vergewissern, damit man weiß, ob man auf dem richtigen Weg ist, wenn man eine Therapie aufstellt.
Wer wird in einer Tagesklinik behandelt?
Patienten, die deutliche Einschränkungen haben, die in ihrem Beruf oder im Alltag nicht mehr zurecht kommen. Menschen, die eine Akutbehandlung benötigen bei Depressionen, Angststörungen, schweren sozialen Phobien, Zwängen oder auch leichten Psychosen.
Gab es denn schon damals einen hohen Bedarf in Mülheim?
Ja. Wir konnten ab Mai 1985 Patienten in der Tagesklinik aufnehmen und waren dann bis zum Jahresende mit den 30 Plätzen immer voll belegt. Zwei Jahre später gab es dann die Zulassung der Klinik für Psychiatrie im stationären Bereich des St. Marien-Hospitals mit 30 Betten. Zuvor wurden die Menschen in Landeskrankenhäusern in Düsseldorf-Grafenberg oder in Viersen behandelt.
Was hat die Psychiatrie vor Ort für Vorteile?
Mit den Behandlungsmöglichkeiten in den regionalen Allgemeinkrankenhäusern wurden die Leute nicht mehr aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen. Der Kontakt zu Familie und Angehörigen bestand weiter, wie bei einem körperlich Kranken. Früher gab es auch nur einmal im Monat einen Bus, der nicht motorisierte Angehörige zu den Landeskrankenhäusern gebracht hat.
Wie ist die Versorgung heute für psychisch Erkrankte in Mülheim?
Die Stadt wird von drei Häusern versorgt: das St. Josef-Hospital in Oberhausen, das Fliedner-Krankenhaus in Ratingen-Lintorf und das Mülheimer St. Marien-Hospital mit heute 80 Betten, inklusive der geschlossenen Abteilung für zwangseingewiesene oder stark selbstgefährdete Patienten mit 19 Betten. Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie ist die größte Abteilung im Haus mit rund 160 Mitarbeitenden.
Welche psychischen Erkrankungen haben Sie in den 1980er Jahren in Mülheim vorwiegend behandelt?
Überwiegend gerontopsychiatrische Fälle, Psychosen, Depressionen, Angststörungen und Suchtkranke.
Was hat sich seither verändert?
Aus meiner persönlichen Sicht hat die Zahl der Borderline-Patienten über die Jahre deutlich zugenommen. Es stellt sich da natürlich auch die Frage, ob wir heute nicht auch nur einen anderen Blick darauf haben. Auf jeden Fall aber haben solche psychische Störungen zugenommen, die mit Selbstverletzungen einhergehen. Das haben wir vor 30 Jahren in dieser Häufigkeit noch nicht so gesehen. Der Großteil der Patienten, die sich selbst verletzen, ich schätze so um die 80 Prozent, leiden an einer Borderline-Störung.
Was kann man sich darunter vorstellen?
Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, die vor allem im jungen Erwachsenenalter auftritt. Die Menschen kennen kaum Zwischentöne, alles ist entweder schwarz oder weiß, das bezieht sich auch auf das Selbstbild oder die Selbstwahrnehmung. Darüber hinaus sind die Gefühlsreaktionen wesentlich intensiver und länger andauernd als bei Gesunden. Das Verletzen, das Schneiden dient dabei dem Spannungsabbau, es soll das Missempfinden bekämpfen, und es ist ein Verhalten, dass durchaus mit einer Suchterkrankung vergleichbar ist.
Was wird heutzutage – neben Borderline – vor allem in Mülheim behandelt?
Grundsätzlich behandeln wir alle Störungen des Erwachsenenalters. Einen gewissen Schwerpunkt stellen Depressionen dar. Das Wissen – und das Bewusstsein darüber – hat zugenommen, nach Studienlage auch die schweren Formen. Traumatisierungen sind ein Thema, das wir vor 30 Jahren auch so noch nicht so hatten. Und dass chronische Erschöpfungszustände zugenommen haben, will ich nicht ausschließen.
Kommen die Patienten früh genug zur psychiatrischen Behandlung, oder ist die Hemmschwelle hoch?
Die Schwelle ist nicht mehr so hoch wie früher, weil es heute mehr Angebote vor Ort gibt. Doch eine Stigmatisierung ist immer noch da. Es wird auch oft noch angenommen, dass eine psychiatrische Symptomatik seelisch bedingt sein muss, aber das stimmt nicht. Eine Depression zum Beispiel muss gar keine seelischen Ursachen haben, der Grund kann auch im Serotoninsystem oder in der Stressverarbeitung liegen.
Was werden Sie nun im Ruhestand tun, wofür werden Sie sich mehr Zeit nehmen?
Zuerst einmal für die Familie, insbesondere meine beiden Enkelkinder. Ich interessiere mich für Oper, für Musik allgemein und für Kunst. Übrigens auch für Philosophie, insbesondere Erkenntnistheorie, und auch Mathematik. Vielleicht studiere ich auch noch einmal. Ich möchte mich aber auch ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel in der Obdachlosenhilfe. Außerdem unterstützen meine Frau und ich bereits einen Hilfsverein in Uganda, der sich für benachteiligte Mädchen und für Kindersoldaten einsetzt.
>> STATIONÄRE BEHANDLUNG ODER TAGESKLINIK
Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am St. Marien-Hospital betreut Patienten stationär und in einer Tagesklinik. In dieser teilstationären Einrichtung werden psychisch Kranke behandelt, die sich tagsüber dort aufhalten und sonst ihre Zeit zu Hause und in ihrem gewohnten sozialen Umfeld verbringen.
Das Bewerbungsverfahren für die Besetzung des Chefarztpostens an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am St. Marien-Hospital läuft derzeit.