Essen. NRZ-Reporter Matthias Maruhn hat keine Angst vor großen Tieren. Und auch nicht nachts allein im Stall. Für die NRZ spürte er der Situation zu Bethlehem nach. Allerdings im Essener Süden - und Ziege Hannibal und Kaltblut Emma mussten Ochs und Esel doubeln.

Der Wind kommt über das Feld und er ist heute kein himmlisches Kind, sondern ein Halbstarker, der Kühle bringt und an der Stalltür rüttelt wie ein später Zecher am verschlossenen Kneipenladen. Die Tür ist auch mehr ein Tor, knapp fünf Meter hoch, aufgehängt an Rollen, eine ideale Angriffsfläche für den Rabauken. Durch einen Spalt zieht es wie Hechtsuppe, also verlagere ich die Stroh- und Heuballen mit meinem Schlafsack in den Windschatten. Schließlich will ich mir hier nicht den Tod holen, sondern mich mit einer Geburt beschäftigen, die vor langer Zeit und weit entfernt geschah. Vor über 2000 Jahren in einem Stall in Bethlehem.

Ich lasse die Funzeln noch brennen und schaue mir zunächst mal meine WG-Genossen an. Rechts die beiden Schlachtrösser, Emma und Nadja, Mutter und Tochter, jede für sich schwer wie ein Auto, Kaltblüter, die aber doch recht interessiert schauen, was denn der Homo sapiens zu nachtschlafender Zeit bei ihnen hier im Stall treibt. Nicht weniger neugierig glotzt Hannibal, der prächtige Schafbock. So stehen wir uns nun schon 30 Sekunden gegenüber, blicken uns an, keiner sagt was, also jetzt auch nichts Gewiehertes oder Gemähtes. Keine Regung, die Zeit gefriert, dann plötzlich beginnen alle Tiere wie auf ein geheimes Zeichen wieder zu kauen oder zu mahlen. Ich bin drin. Sie haben ihren Frieden mit dem Gast gemacht.

Alles ruhig im Schweinestall, gute Nacht

So, noch schnell im angrenzenden Schweinestall nach dem Rechten schauen. Alles ruhig, die Ferkel spielen Sardinen, haben sich eng Rippe an Rippe aneinander gekuschelt, ein leises Grunzen dringt noch ans Ohr, gute Nacht.

Über den Hof gleiten die Scheinwerfer eines Autos und verschwinden über die Felder. Ursula und Günter Maas fahren runter in die Stadt, dort wird ein 50. Geburtstag gefeiert. Familie Maas betreibt den Bio-Hof (nebst Laden) im Süden von Essen schon in der fünften Generation. Sie haben mir erlaubt, hier mein „Bethlehem-Experiment“ durchzuziehen. Zwar gibt’s keinen Esel, aber doch einen kleinen Ochsen, 35 Milchkühe, 55 Stück Jungvieh, 35 Schafe, 35 Schweine, zwei Pferde und 2000 Hühner. Und eben diesen wunderbaren alten Stall.

Günter hat mir zuvor davon erzählt, als ich ihm beim Melken über die Schulter schauen durfte. „Wenn ich im Winter als Junge spät vom Fußball kam, habe ich schon von weitem über die Felder hinweg die erleuchteten Fenster des Stalls gesehen. Das war ein schönes, ein warmes Gefühl.“ Als kleiner Junge schon ist er mit dem Vater immer in den Stall, „mir ist das alles sehr vertraut, die Geräusche, die Gerüche.“

Die Familie ist katholisch und stellt jedes Jahr eine Krippe, ein Erbstück, unter den Tannenbaum. „Wenn ich ehrlich bin: Auch bei der Krippe haben mich die Tierfiguren früher am meisten fasziniert. Diese Neugier, mit der sie in die Krippe schauen. Das ist ja wirklich so. Das kannte ich gut.“

Er treibt die nächsten acht Kühe in den Melkstall. Das geht ohne jede Hektik vonstatten. Günter gibt höchstens leise Befehle. „Geh schon, Hornisse“ oder „Komm, Elfe“. Haben alle Tiere Namen? „Nur die, mit denn man sich auch längere Zeit beschäftigt.“ Früher haben die vier inzwischen erwachsenen Kinder die Namen ausgesucht. „Drei Kühe hintereinander hießen deshalb auch Pommes.“

Günter Maas mag das Melken zweimal am Tag, es bedeutet jeweils eineinhalb Stunden Zeit für sich. Dazu die Routine der Handhabung, die Raum lässt, Gedanken fliegen zu lassen. Und was denkt er über seine Tiere? „Na ja, ich würde nicht sagen, sie gehören zur Familie, aber sie gehören zu meinem Verantwortungsbereich. Ich bin es, der für sie sorgen muss. Ich bin es auch, der bestimmt, wann der Schlachter kommt. Das steht so fest.“ Kurze Pause. „Früher haben das alle verstanden, denn früher hatten fast alle Menschen diesen engen Kontakt zu Tieren. Heute hat den kaum jemand mehr.“

Sorge um den strohblonden Haarschopf

Ich knipse das Licht im Stall aus und lege mich auf mein Heubett. Dunkelheit. Die Tür rappelt, die Tiere kauen. Ein Geräusch kommt näher und näher. Hallo Hannibal. Du wirst doch wohl nicht... Schlagartig wird mir klar, dass mein Schopf durchaus als strohblond durchgeht und Hannibal auf falsche Gedanken bringt, doch der Bock will mir nicht die Haare vom Kopf fressen, er sucht Zerstreuung. Ich setze mich auf und sage ihm, was mich beschäftigt: „Das Problem ist, dass der Stall von Bethlehem in der Bibel gar nicht vorkommt. Im Lukas-Evangelium ist nur von einer Krippe die Rede und davon, dass Maria und Josef keinen Platz in der Herberge fanden, also gehen alle von einem Stall aus.“

Hannibal nickt. „Jetzt kommst du ins Spiel. Laut Lukas zogen die Hirten zum neugeborenen Jesus. In den Krippen sind deshalb immer Schafe dabei. Der Evangelist Matthäus erzählt dagegen von den Weisen aus dem Morgenland, wobei er aber weder eine Zahl nennt noch von Königen spricht. Auch nicht von einem Stall, sondern von einem Haus. Schwierig, oder?“ Hannibal stoppt das Mahlen, weiß aber auch keine Antwort.

Ich lege mich wieder hin, als plötzlich Getöse aus den hinteren Ställen dringt. Etwa bei den Hühnern? Ein Marder? Günter hat mir erzählt, dass mitunter der Marder unter den Hühnern wütet, viele tötet, schlimmer als der Fuchs, der sich nur eines holt. Schlecht für den Bauern vor allem, weil die Hühner dann traumatisiert sind und Tage lang weniger Eier legen. Ich schaue nach. Alles wieder ruhig. Auch bei den Ferkeln.

Heilig mag die Nacht gewesen sein, still war sie gewiss nicht

Licht aus. Inzwischen kenne ich die Geräusche der Stallnacht. Sie beruhigen mich sogar. Ich fühle mich wohl. Doch dann bricht ein Donnern durch die Nacht, eindeutig das Echo allerschwerster Verdauung. Es kommt, na klar, aus Richtung Hannibal. Und ich bin jetzt heilfroh über diesen steten Luftzug im Stall ...

Auch nach meinem Experiment weiß ich natürlich nicht genau, was Maria, Josef und das Kind vor 2000 Jahren in Bethlehems Stall erlebt haben. Nur eins weiß ich schon: Heilig mag die Nacht wohl gewesen sein, still war sie gewiss nicht.