Witten. . “Suche Gesellschaft, biete Sonntagsbraten.“ Mit diesem Aufruf in der WAZ fand Walter Baltes einen Ausweg aus seiner Einsamkeit. Seit August stapeln sich die Einladungen wildfremder Menschen, die den pfiffigen 95-Jährigen sonntagsmittags daheim bewirten. Seinen Beitrag zum Braten mochte bisher niemand annehmen.

Darf ich vorstellen: Walter Baltes. Gelernter Bühnenbildner, überlebte den Krieg als Fallschirmjäger. Erfand Förderbandrollen für den Bergbau, schrieb Bücher, ­führte eine Wochenzeitung und eine Galerie, lebte stets „von einer Idee zur nächsten“. Sein jüngster Einfall gab dem zuletzt einsamen, oft langweiligen Leben des 95-Jährigen noch einmal unverhofften Schwung – das war die Sache mit dem Sonntagsbraten.

Da sitzt er in seinem moos­grünen Sessel, in dem er den größten Teil des Tages verbringt. Seine Bewegungen sind müde, aber seine Augen blitzen pfiffig. „Sogar ein amerikanisches Frauenmagazin interessiert sich jetzt für mich“, gibt er ein wenig an.

„Ach“, sage ich erstaunt, und Baltes entgegnet: „Das ist schön. Aber habe ich eigentlich gelüftet?“ Die Fußpflegerin habe ihn kürzlich ermahnt. Also lüften wir das winzige Zimmer mit der Schlafecke hinter einem Vorhang, der kleinen Küche und den Zeichnungen an den Wänden. Und Walter Baltes erzählt, wie alles begann.

Nach dem Tod seiner Frau Lorle wollte er nicht weg

Im Sommer, er saß wohl wieder im Sessel, dachte er nach. Was wünschte er sich? Eingeladen zu werden. Sich an einen gedeckten Tisch zu setzen, gute Gespräche zu führen. Vor fünf Jahren hat Baltes seine liebe Frau Lorle verloren, „seitdem lebe ich in einem tiefen Loch“. Seine Tochter wohnt in ­Österreich, sein Sohn in Cux­haven.

Er aber wollte in Witten bleiben, wo ihn jeder kennt. Zuletzt tingelte er als Zeitzeuge durch Schulen und erzählte von seiner Zeit als Hitlerjunge. In all den Jahren lauschten 5000 junge Wittener ergriffen seinen Erinnerungen.

Mit Lorles Tod hatte das ein ­Ende. Sie starb an Krebs, in seinen Armen. Nach ihrem Tod zog er ins Seniorenzentrum, das erschien ihm praktisch: Mit dem Rollator kann er im Supermarkt gegenüber einkaufen, einige Meter die Straße hoch gibt es das Altenheim-Bistro.

Allein zu kochen sei zwar kein Problem. Nur allein zu essen, Tag für Tag, das mache ihn mürbe. „Ich hab’ doch eine gute Rente“, sagte sich Baltes, er könnte einen Sonntagsbraten verschenken. Die Idee: Andere laden ihn ein, er zahlt im Gegenzug das Mittagessen.

„Suche Gesellschaft, biete Sonntagsbraten“, unter dieser Überschrift erschien sein Aufruf in der WAZ Ende August. Am nächsten Tag holte Walter Baltes das Telefon an seinen Sessel und wartete. 40 Leute riefen an. Baltes erstellte eine Liste. 40 Mittagessen auf einmal verplant! Dann klingelte es an der Tür: Ein Leser, der persönlich kam und ihn prompt für den ersten Sonntag, halb eins, buchte.

Ein Gedicht auf dem Teller, eine Geschichte aus dem Buch 

Baltes fuhr mit dem Taxi zu ­jenem Ehepaar Dittmars aus Witten-Bommern. Die 20 Euro für den Braten hatte er in einem Briefumschlag dabei. Die Dittmars’ haben ein schönes Haus, „gut situierte Leute“, erzählt er. „Wir bekommen oft Besuch“, begründet Margrit Dittmar ihre ungewöhnliche Ein­ladung.

„Also warum nicht mal einen völlig Fremden einladen? Wir sitzen jeden Tag zusammen, da ist so etwas doch spannend.“ Sie kochte Schweinefilet in Pfeffersoße, „ein Gedicht“, schwärmt Baltes. Er erzählte aus seinem Leben, sie verabredeten sich gleich erneut.

Inzwischen gibt es einen gewissen Einladungsstau. Im Stadtteil Annen gab es Gulasch, vier Katzen strichen um den Tisch. Baltes liebt Tiere, glücklich fuhr er nach ­Hause. Rollbraten wurde im Haus eines Feuerwehrmanns serviert. Kurz danach lud ihn dessen Kol­lege ein.

Weihnachten verbringt er lieber in seiner „kleinen Höhle“

Gerade kommt er aus ­Witten-Heven zurück, „gehobener Mittelstand“, berichtet er. Acht Leute an einem Tisch, zwei große schwarze Hunde und wieder Katzen. „Der Mann hatte einen Doktortitel! Ich habe aus meinem Buch vorgelesen, es war ein wunderbarer Abend.“ Weihnachten allerdings will Walter Baltes lieber allein ­verbringen. „Ich fühle mich sehr wohl in meiner kleinen Höhle“ – er meint seine Wohnung. „Es ist gerade genug Trubel um mich herum.“

Genug gelüftet, Walter Baltes lehnt sich zufrieden zurück: „Für mich in meinem Alter ist das eine wunderbare Bereicherung.“ Nur eine Sache bereitet ihm Kopf­zerbrechen: Die 20 Euro für den Braten wollte keiner der Gastgeber annehmen. Dabei wollte er doch nicht nur nehmen, sondern auch geben! Den Geld-Umschlag schiebt er mittlerweile heimlich unter seinen jeweiligen Teller. Not macht erfinderisch.