Essen. . Über zwei Millionen Flüchtlinge haben das Land verlassen, die meisten leben in den Nachbarstaaten Syriens in Lagern. Deutschland will 10000 von ihnen aufnehmen. Aber erst 1700 sind eingetroffen. Der Flüchtlingsrat und Pro Asyl kritisieren die bürokratischen Hindernisse. Auch die Familien-Zusammenführung läuft schlapp. Zwei Syrer erzählen ihre Geschichte.

„Zunächst möchte ich dem deutschen Staat danken, dass er uns geholfen hat.“ Labeeb sagt das durchaus feierlich, dabei ist er gar nicht so der Typ für feierliche Sätze. 30 Jahre alt, studierter Künstler und Illustrator, eher locker wirkt er. Seit einer Woche nun lebt er mit seiner Frau Hazar und Tochter Leyla (5) in Essen, hier findet eine lange Flucht ihr Ende, die in Damaskus ihren Anfang nahm. Wer Labeebs feierlichen Ton und seine Dankbarkeit verstehen will, muss mehr wissen über die Familie und das Land, aus dem sie flohen.

Kriegsbeginn

Labeeb hat gerade sein Studium an der Kunstakademie beendet, als in Syrien vor 1000 Tagen, vor fast drei Jahren, der Bürgerkrieg beginnt. „Mir war klar, dass ich jetzt Soldat werden musste. Und ich wusste, dass ich dann auf andere Menschen in meinem Land schießen muss.“ Also flieht die Familie, gelangt über Umwege nach Beirut, Libanon. Das Problem: 800 000 andere Flüchtlinge aus Syrien sind auch gekommen. In ein Land, das gerade mal 4,2 Millionen Einwohner hat. Armut, kaum Arbeit.

Ausreise nach Deutschland

Labeeb (30) lebt seit einer Woche mit seiner Familie in Essen.
Labeeb (30) lebt seit einer Woche mit seiner Familie in Essen. © mam

Zurück nach Syrien geht nicht, selbst wenn Labeeb es wollte. „Ich würde bei meiner Ankunft sofort vor ein Militärgericht gestellt.“ Also beantragt er vor einigen Monaten beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Ausreise. Egal wohin, nur weg. Einige Wochen später wird er im Bus zur Deutschen Botschaft gebracht. Pässe abgeben. „Dann ging alles schnell.“ Am 18. November sitzen die Drei im Flugzeug nach Hannover, dann im Lager Friedland, schließlich die Fahrt nach Essen. Eine kleine Wohnung. Großes Aufatmen. Geschafft.

Die Zahl der Flüchtlinge

Ein Glücksfall, die Ausnahme: Denn Deutschland hat sich zwar bereit erklärt, statt der zunächst geplanten 5000 jetzt 10 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen, aber: Bisher haben es erst 1700 bis nach Deutschland geschafft, in einer Großstadt wie Essen sind es gerade mal fünf, darunter Labeeb, Hazar und Leyla. Weit mehr, nämlich 60 Syrer sind auf eigene Faust nach Essen gekommen, als Asylbewerber, oft unter Lebensgefahr. Der Flüchtlingsrat NRW und Pro Asyl kritisieren den lahmen Prozess und nennen als Grund die zeitraubende Bürokratie, nicht nur auf libanesischer Seite. Viel zu oft würden Anträge doppelt geprüft, Empfehlungen des UNHCR nochmals vom Auswärtigen Amt gegengecheckt, wertvolle Zeit verrinnt, die Charter-Flugzeuge nach Hannover fliegen deshalb mit viel zu vielen leeren Sitzen.

Auch interessant

Die Familien

Es gibt eine zweite, von den Bundesländern (außer Bayern) durchgeführte Regelung. In Deutschland lebende Syrer können ihre Familien nachholen. Safa, 34 Jahre alt, verheiratet, vier Kinder, seit zehn Jahren in Deutschland, sie will ihre Eltern und die Schwester mit Familie nach Gelsenkirchen holen, in Sicherheit bringen. Zunächst hatte NRW die Zahl auf 1000 beschränkt, jetzt soll das Limit aufgehoben werden, auch weil bereits 4500 Anträge gestellt wurden. Auch hier läuft es in einer alles andere als einem Krieg angemessenen Geschwindigkeit. Bisher wurden 69 Visa erteilt, gerade mal 17 Syrer haben es bisher auf diesem Weg nach NRW geschafft.

Die Angst

Safa ist an diesem Morgen ziemlich fertig. Sie steht mit der Familie in Damaskus per WhatsApp in Verbindung. Gerade kam die Nachricht. „Unser Nachbar ist tot. Vor drei Monaten wurde er verschleppt. Jetzt haben sie seine Sachen gebracht. Angeblich Herzinfarkt. Mit 35! Nicht mal betrauern dürfen sie ihn. Seine Frau nicht, seine drei Kinder nicht. Niemand sagt was. Alle haben Angst, die Nächsten zu sein. Ich will meine Familie da rausholen.“

Auch interessant

Safa kann nicht mehr. „Jedenfalls nicht mehr lange. Wenn ich im Fernsehen die Bilder sehe, muss ich immer noch weinen. Die Kinder kommen dann, fragen: Mama, ist was mit Oma? Mein Ältester, Achmed, ist neun, vierte Klasse. Die Lehrerin hat mich angesprochen, was denn bei uns zu Hause los sei, Achmed habe sich so verändert. Ich konnte nur sagen ‘der Krieg in Syrien’. Zum Glück hat Achmed sich gefangen. Aber es ist schrecklich. Manchmal rufe ich in Damaskus an, und dann höre ich die Bomben und Granaten im Hintergrund. Und dann denke ich: meine Eltern, meine Schwester. Ich muss ihnen helfen.“

Das Geldproblem

Safas Mann hatte in Gelsenkirchen ein Baugeschäft, das der Wirtschaftskrise 2010 zum Opfer fiel. Jetzt ist bei ihnen alles auf Kante genäht. Aber die Bedingungen der Landesregierung sind hart: Die Familie muss für Unterkunft und Unterhalt der ins Land Geholten aufkommen. Immerhin: In NRW werden die Gesundheitskosten von der Kommune übernommen. Schwierig bleibt es dennoch. Allein für ihre Eltern müsste Safa im Monat mit 672 Euro für den Unterhalt bürgen, die fünfköpfige Familie ihrer Schwester würde über 1400 Euro erfordern. Außerdem muss für jeden Erwachsenen 12 Quadratmeter Wohnraum bereit gestellt werden. Sonst muss dazugemietet werden. Das alles kann Safa nicht. Nie im Leben. Ihre einzige Hoffnung ist jetzt ein Freund ihres Mannes, der etwas wohlhabender ist. Er will einspringen. Hat er versprochen. Safa wird nicht locker lassen. Auch nicht bei den Ämtern. Sie will ihre Familie aus der Not retten.

Die Zukunft

Hazar und Labeeb sind voller Elan, wie jüngere Menschen es auf so erfrischende Weise sind, wenn sich eine Tür in die Zukunft öffnet. Sie wollen, dass Leyla im Sommer zu einer Schule geht. Und Labeeb sagt wieder mit großem Ernst: „Zuallererst aber werden wir jetzt Deutsch lernen. So schnell es geht.“ Denn niemand weiß, wie lange der Krieg daheim noch eine Rückkehr unmöglich macht. Und wie jetzt von Hartz IV wollen sie gewiss nicht lange leben. Endlich hat das Leben wieder eine Richtung.