An Rhein und Ruhr. . Jenny Elvers beichtete kürzlich im TV, die Briten verfolgen den Niedergang ihres Fußballidols Paul „Gazza“ Gascoigne. Viele Trinker allerdings ernten kein öffentliches Interesse. Eine Geschichte über eine Frau, die zeigt, wie Ernst die Lage werden kann.
In jüngster Zeit wurde viel über Alkoholismus geredet. Ex-Nationalspieler Uli Borowka schrieb ein Buch, Schauspielerin Jenny Elvers schilderte ihre Trunksucht im TV, und die Briten verfolgen den Niedergang ihres Fußballidols Paul „Gazza“ Gascoigne. Die meisten Trinker aber ernten kein öffentliches Interesse. Sie leben mitten unter uns, und bevor wir erkennen, wie ernst die Lage ist, sind sie tot. So wie Sabine, eine Freundin. Sie starb kurz vor ihrem 52. Geburtstag.
Nach neuen Berechnungen aus der Behörde der Bundesdrogenbeauftragten kommen jedes Jahr 74 000 Menschen durch ihren Alkoholmissbrauch zu Tode. Bei Sabine versagte die Leber, und es war grässlich anzusehen. Sie hinterließ einen netten Mann, einen todtraurigen Sohn und gebrochene, alte Eltern. Auch ihre Familie konnte sie nicht am Leben halten.
Warum zog keiner die Notbremse
Im Nachhinein haben wir uns gefragt, wie es so weit kommen konnte, warum Keiner die Notbremse zog. Wir haben gemutmaßt, dass sich ihre Familie arrangiert hatte mit der Situation, so lange nur nichts nach außen drang. Co-Alkoholismus nennt man das stabile System, weil alle an ihren Gewohnheiten festhalten, auch wenn sie schlecht sind. Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn Sabine rechtzeitig „trocken“ geworden wäre? Vielleicht hätte sie ihren Job geschmissen, Kunstgeschichte studiert, wäre über die Alpen gewandert. Alles das, was sie immer machen wollte, sich aber nie traute.
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Sabine war immer kompliziert, und ihre Probleme waren uns auch zu Schulzeiten schon eher lästig. Sie war ehrgeizig und Klassenbeste, sogar als Jugendliche stets diszipliniert, nie über die Stränge schlagend, nicht mal auf Klassenfahrten. Es gibt viele ernste Fotos von Sabine, aber auch ein ganz bezauberndes, wie sie, bunt kostümiert, auf einem Anhänger steht, die Flasche Apfelkorn in der Hand, und selig beschwipst ihr Abitur feiert. Endlich war sie mal locker, entspannt.
Danach sind wir auseinandergedriftet, jeder hat in einer anderen Stadt studiert, hat neue Freunde, Partner kennengelernt. Wir haben uns regelmäßig besucht, und sie betonte damals, jeden Abend ein Glas Rotwein zu trinken - gegen Herzinfarkt. Wir, die wir als Studenten das Bier und die Zigaretten nicht zählten, taten ihr Trinkritual als Marotte ab. Wahrscheinlich hat sie damals schon gelogen.
Müde und überfordert
Die Jahre vergingen, wir hatten mit unseren Familien zu schaffen. Ab und zu traf ich mich noch mit Sabine, die öfter müde wirkte, schleppend sprach, aber nie unkonzentriert war. Sie fühle sich überfordert, sagte sie, sie möge ihren Job nicht, stecke aber die ganze Energie in ihr Zuhause.
In dieser Zeit geschah es, dass man sich verabredete, und sie sagte zehn Minuten vorher ab. Es ginge ihr plötzlich nicht gut, war stets ihre Entschuldigung. Wenn wir uns dann aber doch mal sahen, saß sie kerzengerade, tip-top gepflegt, kam mit dem Auto, trank Wasser und roch nie nach Alkohol.
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Eines Tages dann rief sie an und lud mich ein, das erste Mal seit langem. Auf dem schön gedeckten Tisch stand Salat mit Entenbrust. Im blitzsauberen Haus sah es aus wie in einer Ausgabe von „Schöner Wohnen“, geschmackvolle Vasen, Kunstdrucke, nichts lag herum. Eine abgemagerte Sabine trank Mineralwasser. „Ich habe ein Alkoholproblem“, sagte sie förmlich. Verlegenes Lachen: „Aber Sabine, haben wir das nicht alle irgendwie?“ Sie trinke richtig, beharrte sie. Sie habe versucht, davon loszukommen. Sie schaffe es nicht. Und sie glaube nicht, dass sie alt werde.
Der Weg in den Abgrund
Es war ein verstörendes Gespräch. Anfangs, so erzählte sie, habe der Alkohol sie beflügelt. Ein Glas Wein, und schon konnte sie charmant plaudern, selbstbewusst auftreten, bei der Lehrerin des Sohnes, den Nachbarn. Und dann sei es immer mehr geworden. Aber es gebe doch Therapien, versuchte man zu beschwichtigen, man muss nur wollen, es gebe so viele Promis, die auch trocken sind...
Ihr Witwer hat später erzählt, wie es weiterging. Wie ihr gekündigt wurde, wie sie das Haus nicht mehr verließ. Er erzählte von Weinflaschen, die er im Keller, unterm Treppensturz, im Putzeimer fand, wie er sie zur Rede stellte und wie sie antwortete, dass sie keine Hilfe brauche. Tatsächlich glaubte sie lange Zeit, sie habe den Konsum im Griff, wenn sie nur Wein trinke.
Wenn sie abends noch Auto fahren wollte, rechnete sie morgens anhand ihres Gewichts und der Prozente aus, wann sie den Alkohol wieder abgebaut hatte. Als sie sich dann doch auf eine Therapie einließ, brach sie während der Gruppensitzung ab, weil sie das „Ich heiße ... und bin Alkoholikerin“ lächerlich fand. Außerdem stritt sie sich mit den Suchttherapeuten. Trost fand sie schließlich bei einer Gemeindeschwester. Aber mit dem Diesseits hatte sie abgeschlossen.
Kiloweise Wasser im Körper gespeichert
Nach dem letzten Besuch bei Sabine zuhause haben wir nur noch einmal miteinander telefoniert. Sie lachte sogar am Telefon: „Gerade sehe ich aus wie eine Wurst. Ich habe kiloweise Wasser im Körper gespeichert. Meine Leber versagt. Und meine Nieren auch. Da kann man nichts mehr machen. Ich will auf keinen Fall, dass mich jemand so sieht. Ich trinke auch nur noch ein, zwei Gläser Wein am Tag, immerhin!“.
Ein halbes Jahr später war sie tot.