Essen. Tausende Jugendliche in NRW schlafen auf der Straße, in Notunterkünften oder bei Freunden. Sozialarbeiter helfen ihnen, wieder Fuß zu fassen.
- 1642 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren lebten 2015 auf NRWs Straßen
- Bürokratische Hürden erschweren Straßenkindern den Zugang zu finanzieller Unterstützung
- Sozialarbeiter fordern, dass volljährige Jugendliche mehr Hilfe vom Jugendamt bekommen
Vernachlässigt, alleine gelassen, Opfer von körperlicher Gewalt, sexuellem Missbrauch oder durch das Netz der Jugendhilfe gerutscht – diese Gründe treiben Jugendliche in ein Leben als Obdachlose. Es sind ganz verschiedene Kinder und Jugendliche, die wohnungslos sind – doch meist haben die Jugendlichen ähnliche Vorgeschichten, so Sozialarbeiter aus dem Rheinland, dem Ruhrgebiet und Südwestfalen.
Jens Elberfeld, Leiter der Streetwork-Station Off Road Kids in Dortmund, erklärt: „Wohnungslosigkeit ist ein differenziertes Problem.“ Es gebe nicht nur den klassischen Obdachlosen, der unter der Brücke schläft, sondern auch verdeckte Obdachlosigkeit – gerade bei Jugendlichen.
Die Couch von Freunden als Zuhause auf Zeit
Sie organisieren sich immer wieder einen neuen Schlafplatz – in der Wohnung von Freunden oder Bekannten. Sie seien also wohnungslos - verdeckt obdachlos. Mit der Homepage „Sofa-Hopper“ greift die Stiftung Off Road Kids, die bundesweit agiert, das Phänomen auf und bietet eine digitale Beratung. Jugendliche können sich dort mit ihren Problemen Hilfe per Chat suchen.
Rechtliche Grundlagen
Im Jugendhilfegesetz ist das Recht von Kindern und Jugendlichen verankert, dass ihre Entwicklung gefördert werden soll und sie zu eigenverantwortlichen Erwachsenen erzogen werden.
Damit alle Kinder und Jugendlichen von diesem Recht profitieren, gibt es die Jugendhilfe, deren Aufgabe es unter anderem ist, junge Menschen vor Gefahren zu schützen. Zudem gibt es in der Jugendarbeit Hilfe in Erziehungsfragen und Beratung für Jugendliche mit verschiedensten Problemen.
Die Jugendhilfemaßnahmen enden nach dem Gesetz nicht mit der Volljährigkeit. In Paragraf 41 heißt es: „Einem jungen Volljährigen soll Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden.“
Ein Knackpunkt für die Obdachlosigkeit vieler Jugendlicher sei die Umbruchphase mit der ersten Beziehung, zwischen Ausbildung und Schule sowie dem Auszug aus der Familie oder einer Jugendhilfeeinrichtung. Ein Punkt sei auch, dass zwar nach dem Jugendhilfegesetz Jugendliche auch nach der Volljährigkeit noch weiter betreut werden müssen, aber die Praxis oft anders aussehe. Jugendliche würden von Ämtern oft abgebügelt, wenn sie alleine kämen, berichtet der Sozialarbeiter.
Die Arbeit von Off Road Kids ziele darauf ab, dass die Teenager wieder einen festen Wohnsitz haben. Dazu begleiten die Dortmunder Sozialarbeiter die jungen Menschen zum Beispiel bei Behördengängen. „Ämter und Behörden werden von den Jugendlichen nicht als Hilfe – sondern als Gegner wahrgenommen“, sagt Elberfeld. Damit die Jugendlichen mit den Behörden überhaupt kommunizieren können, können sie bei Off Road Kids eine Postadresse anmelden.
Schutz für obdachlose Mädchen und Frauen
In der Jugendhilfeeinrichtung Trebe-Café der Diakonie in Düsseldorf wird jungen Mädchen und Frauen geholfen, die obdachlos sind oder von Obdachlosigkeit bedroht. Marita Wenzel, Leiterin der Jugendhilfeeinrichtung, beschreibt die Mädchen so: „Sie wissen zwar wie man überlebt, aber sie müssen das Leben lernen.“ Die Zwölf- bis 26- Jährigen wüssten oft nicht, wie es funktioniert sich gewaltfrei zu streiten und müssten es auch erst lernen, sich an Regeln zu halten. Im Trebe-Café sollen die Mädchen einen sicheren Ort finden. Drei Stunden täglich ist die Jugendhilfeeinrichtung geöffnet.
Die Mädchen können dort etwas essen oder sich duschen. Manche wollen nur das, aber die meisten jungen Frauen suchen Hilfe. Diese bekommen sie auch – aber erst, wenn sie sie selbst wollen: Eine 14-Jährige sei zwei Wochen lang immer ins Trebe-Café gekommen, stets die langen blonden Haare vor dem Gesicht. Auf Fragen, ob sie etwas brauche habe sie zurückweisend reagiert. Nach 14 Tagen habe sie die Haare zur Seite gelegt und gesagt: „Mit euch kann ich was tun.“
Die Mädchen müssten sich erst sicher sein, dass ihnen niemand schade. Denn die Täter, die ihnen gegenüber gewalttätig waren, seien in der Regel Erwachsene. „Und wir hier in der Einrichtung sind auch Erwachsene“, so Wenzel.
Vertrauen als Grundlage für Hilfe
In der Notschlafstelle Raum 58 in Essen können acht obdachlose Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren übernachten – sieben Nächte in jeder Woche. Die ersten vier Tage können die Heranwachsenden anonym bleiben – danach solange sie wollen, aber mit Angabe ihres Namens. Die Einrichtungsleiterin Manuela Grötschel sagt: „Der bedingungslose Schlafplatz ermöglicht erst den Zugang zu den Jugendlichen.“ 80 bis 90 Prozent würden zunächst nur den Schlafplatz nutzen und erst wenn sie Vertrauen gefasst haben, nach Hilfe suchen.
„In aller Regel kommen die Jugendlichen aus einem ‚Broken Home‘, keiner von ihnen hat ein geklärtes Verhältnis zu den Familien“, so Grötschel. „Wir bieten für die Jugendlichen hier Vermittlung und Beratung an“, sagt Grötschel. Sie helfen auch dabei Kontakte herzustellen. Die Jugendlichen würden wahrnehmen, dass sie von den Strukturen abgehängt seien und ausgeschlossen, deshalb hätten sie sich anders organisiert. Dadurch sei es beispielsweise eine Hürde, überhaupt Gelder bei Ämtern zu beantragen, erklärt die Sozialarbeiterin.
Jugendliche sind in der Beweispflicht
Christine Wienstroth, Leiterin der Wohnungslosenhilfe Hagen der Diakonie Mark-Ruhr, kümmert sich mit ihrem Team um Obdachlose ab 18 Jahren. „Bei Jugendlichen unter 25 Jahren gibt es ein gesetzliches Auszugsverbot“ , sagt Wienstroth. Das heißt, dass die jungen Menschen in den elterlichen Haushalt zurück müssten, da das Jobcenter keine Bezüge für eine eigene Unterkunft zahle, so Wienstroth. Die Leiterin erklärt: „Nur in Ausnahmefällen wird eine eigene Wohnung finanziert.“ Dabei seien die jungen Erwachsenen in der Beweispflicht zu zeigen, dass sie nicht in den elterlichen Haushalt zurückkehren könnten.
Wienstroth, die seit über 20 Jahren bei der Beratungstelle arbeitet, sagt: „In den letzten fünf bis sechs Jahren ist die Zahl der jungen Wohnungslosen angestiegen." Die Gruppe der 18 bis 25-Jährigen mache mittlerweile rund 33 Prozent der betreuten Wohnungslosen aus. Zu den Ursachen mutmaßt Wienstroth, dass die veränderten Strukturen und Aufbrüche in den Familien damit zu tun hätten.
Den Jugendlichen, die in die Beratungstelle kommen, fehle es oft an Basiskompetenzen, so Wienstroth. „Bei der Arbeit mit jungen Menschen ist es wichtig, dass die Hilfe schnell eine Wirkung zeigt, sonst brechen die Jugendlichen die Hilfe ab", erklärt die Sozialpädagogin. Zunächst werde die finanzielle Situation der Jugendlichen in der Beratung geklärt und gesichert. Anschließend würden die jungen Wohnungslosen an weitere Stellen vermittelt.
Jugendliche schaffen den Schritt in die Selbstständigkeit nicht
Im Youtel der Diakonie in Duisburg gehe es hauptsächlich um die Versorgung von sogenannten „Care Leavern", sagt Matthias Beine, Sozialarbeiter beim Youtel. In der Forschung werden Jugendliche als „Care Leaver" bezeichnet, die in Heimen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind und die Betreuung mit der Volljährigkeit verlassen.
„Mit 18 werden die Jugendlichen in die Freiheit entlassen und viele schaffen es nicht alleine", sagt Beine. Die Jugendlichen hätten kein stabiles Hilfenetzwerk, auf das sie zurückgreifen können - sie seien auf sich allein gestellt, so der Sozialarbeiter. Sie würden für eine Zeit Unterkunft bei Freunden finden, aber „Sofa-Hopping" sei keine Dauerlösung. „Die Jugendlichen sind zwar nicht obdachlos, aber wohnungslos", erklärt Beine.
Psychische Probleme bei jungen Wohnungslosen steigen an
Es gibt mehrere Gesetze, die Jugendlichen helfen sollen. Dabei stelle sich dann häufig die Frage, wer zuständig sei, so Beine. „Die Jungendlichen kommen mit einem Rucksack voll Problemen zu uns", sagt der Sozialarbeiter. Im Youtel können sie ein halbes Jahr bleiben, bis dahin sollten die Probleme möglichst kleiner werden.
Im Youtel bekommen die Jugendlichen Hilfe bei Behördengängen, Jobsuche und Vermittlung in Sucht- und Psychotherapie oder Schuldnerberatung. „Wir stellen im Youtel die Weichen, dass es vernünftig weiter geht", sagt Beine. Die Einrichtung hilft jungen Obdachlosen von 16 bis 25 Jahren seit 2010. „In den letzten Jahren ist aufgefallen, dass immer mehr Jugendliche mit psychischen Problemen zu uns kommen“, erklärt Beine.
Minderjährige Obdachlose oft weiblich
Jens Elberfeld von den Off Road Kids in Dortmund berichtet aus seinen Erfahrungen, dass die Minderjährigen meist Mädchen seien und die Obdachlosen zwischen 18 und 21 Jahren meist männlich seien. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür gebe es nicht. „Wir haben hier die These, dass es daher kommt, dass die Mädchen eher in die Pubertät kommen als die Jungs“, so Elberfeld. Daher entstünden bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren Konflikte. Zudem würden Mädchen oft von zu Hause rausgeworfen, wenn sie schwanger sind.
Laut der Wohnungslosenstatistik 2015 des Sozialministeriums von NRW lebten 1642 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in 2015 in NRW auf der Straße. 3256 im Alter von 18 bis 25 Jahren waren obdachlos. In ganz Deutschland sind es nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) 29.000 minderjährige Wohnungslose. Laut der Prognose der BAG W steigt die Zahl der Wohnungslosen bis 2018 weiter.