NRW. Für den Verfassungsschutz ist die kostenlose Verteilung des Koran ein Rekrutierungsprojekt von Islamisten. Die Städte haben bislang kaum eine Handhabe.
Ein Stand mit weißer Decke, darauf der Koran gleich stapelweise, Plakate, auf denen „Lies!“ steht, manchmal Rosen. Dahinter freundliche junge Männer, die meisten bärtig, einige in langen Gewändern und mit gehäkelten Käppis. Seit Herbst 2011 ist dieses Bild häufig in den Fußgängerzonen in Nordrhein-Westfalen zu sehen.
Staatsschützern bereitet es Kopfschmerzen, auch in den Rathäusern an Rhein und Ruhr sieht man es nicht gerne. Hinter den Koranverteilaktionen stecken Menschen, die der islamistischen Szene zugeordnet werden. Bislang ist es nicht gelungen, das Treiben zu unterbinden. Jetzt warten die Kommunen gespannt auf den 5. Oktober. Dann wird das Verwaltungsgericht in Aachen urteilen, ob ein Verbot einer Verteilaktion durch die Stadt Aachen rechtens war.
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„Street Dawa“, die Straßenmissionierung, ist eines der Kernthemen der salafistischen Szene, die seit Jahren ständig wächst. In NRW beobachtet der Verfassungsschutz etwa 2700 Salafisten, 620 gelten als gewaltbereit. Die Koranverteilkampagne der „Lies! GmbH“, hinter der das islamistische Netzwerk „Die wahre Religion“ und unbekannte, offenbar potente Spender vermutlich aus der arabischen Welt stecken, bewertet der Verfassungsschutz als „salafistisch extremistische Aktionsform“, die dem „Heranführen junger Menschen an die extremistische Szene“ dient. Im vergangenen Jahr sind NRW-weit 350 Verteilaktionen durchgeführt worden, etwa in Aachen, Bonn, Dortmund, Düren, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Köln oder Siegen. Bislang ist es den Städten nicht gelungen, eine rechtliche Handhabe gegen die Aktionen zu finden.
Eine „nicht unproblematische juristische Frage“
„Das ist eine nicht unproblematische juristische Frage“, sagt der Essener Ordnungsdezernent Christian Kromberg, in dessen Stadt allein in diesem Jahr schon 15 Verteilaktionen stattgefunden haben. Schließlich stünden hinter den Aktionen Organisationen, „die nicht verboten sind“. Zudem deckt das Grundgesetz die Religionsfreiheit auch für Menschen, die das Grundgesetz ablehnen.
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Die Stadt Bonn wollte im Juni 2012 einen zunächst genehmigten „Lies!“-Infostand untersagen, nachdem es einen Monat zuvor in der Stadt zu gewalttätigen Ausschreitungen von Salafisten gekommen war. Das Verwaltungsgericht Köln lehnte das unter anderem mit Hinweis auf die Religionsfreiheit ab, das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster sah keine besondere Gefährdungslage. Allerdings, betonte gestern ein OVG-Sprecher auf Anfrage, sei der damalige Beschluss ein „Einzelfall ohne Bindungswirkung“ gewesen.
Anfang Januar hat jetzt die Stadt Aachen einen Infostand untersagt. Nicht wegen einer besonderen Gefährdungslage, sondern wegen der Nähe der Aktion zu verfassungsfeindlichen salafistischen Kreisen. Dagegen hat der Anmelder geklagt. Im Oktober wird das Verwaltungsgericht Aachen über die Klage entscheiden.
Von der Straße in den Krieg
Die Koranverteiler geben sich auf der Straße handzahm und freundlich. Dass vom „Lies!“-Projekt aber eine direkte Verbindung zur dschihadistisch-salafistischen Szene führt, daran gibt es keinen Zweifel. Etliche der „Lies!“-Aktivisten aus Nordrhein-Westfalen sind beim Terrorkalifat „Islamischer Staat“ gelandet. Nur einige Beispiele: Der Solinger Robert Baum, der sich im Januar 2014 in der syrischen Stadt Homs in die Luft sprengte. Christian Emde, ebenfalls aus Solingen, der dem deutschen Publizisten Jürgen Todenhöfer in der IS-Hochburg Mossul ein Interview gab, in dem er die Versklavung von Frauen rechtfertigte und den Massenmord an Schiiten propagierte. Michael Noack aus Gladbeck, der in einem IS-Propaganda-Video Deutsche zum Kampf im Irak und Syrien aufrief.
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Der derzeit wegen des Verdachts der Unterstützung von Terroristen inhaftierte Salafisten-Prediger Sven Lau aus Mönchengladbach war genauso beim „Lies!“-Projekt dabei wie Hasan Keskin aus Hemer, der Kopf des im vergangenen Jahr verbotenen Islamisten-Vereins „Tauhid Germany“. Nicht zuletzt war auch einer der beiden Jugendlichen, die im April in Essen einen Anschlag auf einen Sikh-Tempel verübten, bei der Koran-Verteilaktion engagiert.
Essens Ordnungsdezernent Kromberg lässt derzeit „intensiv prüfen“, ob man dem Aachener Beispiel folgt und es auf eine gerichtliche Auseinandersetzung ankommen lässt. „Wir müssen eine Nichterlaubnis juristisch wasserfest bekommen“. Dazu setzt er auch auf die Hilfe des Verfassungsschutzes und anderer Sicherheitsbehörden. „Wir brauchen mehr Informationen“, sagt Kromberg.
FDP will Verbot der „Lies! GmbH“
Ebenfalls mit Interesse ist in NRW registriert worden, dass Hamburg die Verteilaktionen verboten hat, weil den Antragstellern eine „ausreichende Nähe zur salafistischen und dschihadistischen Szene“ nachgewiesen werden konnte. „Wir werden schauen, auf welcher rechtlichen Grundlage die Hamburger das getan haben“, so ein Sprecher des NRW-Innenministeriums auf Anfrage der NRZ. Die FDP-Fraktion im Landtag hat jetzt einen Antrag eingebracht, in dem sie die Landesregierung auffordert, ein mögliches Verbot der „Lies! GmbH“ und anderer „strukturverwandter Organisationen“ zu prüfen. Es gebe eine Vielzahl Anhaltspunkte, dass die Koranverteilkampagne in Wahrheit der Werbung und Unterstützung für „ausländische terroristische Organisationen“ diene.