Essen. Sie sollen mit gefälschten Arzneien Millionen verdient haben. Jetzt sind fünf Männer im Revier verhaftet worden. Ein wichtiger Tipp kam aus England.

Den entscheidenden Hinweis erhielt die Essener Zollfahndung im Dezember 2013 aus Großbritannien: Keine hundert Meter von ihrem Dienstsitz am Hauptbahnhof schlummere nach vorliegenden Informationen eine verdächtige Lieferung in einer Lagerbox. Das war ein Schock.

Von wem die Information kam, ist den Essener Zöllnern nicht bekannt. Die europäischen Sicherheitsbehörden nutzen für so was eine Art toten Briefkasten. Aber das Ergebnis ist entscheidend. Heute - fast zwei Jahre danach, nach Beobachtungen, Scheinankäufen durch die Ermittler, Durchsuchungen in 16 Häusern, Wohnungen und Garagen und dem Fleddern von 25 Konten - sind seit Anfang September unter anderem in Duisburg, Gelsenkirchen und dem niedersächsischen Bad Pyrmont 3,5 Millionen illegale Arznei-Präparate sichergestellt worden und fünf mutmaßliche Händler in Haft. Sie kommen aus Duisburg, Gelsenkirchen und Den Haag.

Schwarzmarktwert von 14 Millionen Euro

Was die „Ermittlungskommission Cobra“ seit dem heißen Tipp aus London Zug um Zug aufdecken konnte, erklärt der Chef des Zollfahndungsamtes, Hans Joachim Brandl, so: „Wir haben die größte einzelne Sicherstellung von gefälschten Medikamenten, die es bisher in Deutschland gab“. Der Schwarzmarktwert liegt bei 14 Millionen Euro. Für das ganze letzte Jahr meldet das Bundesfinanzministerium beschlagnahmte Arznei für 1,4 Millionen. Es kann sein, dass die Revier-Fahnder gerade die Dimension einer weitgehend unbekannten Machart harter Kriminalität neu definieren.

Das ist keine beruhigende Nachricht. Es gibt Opfer. Offenbar haben viele Jahre lang mehrere zehntausend Patienten in der ganzen Republik in großen Stückzahlen gefälschte Schmerzmittel und Antibiotika, Potenzmittel und Schlankheitspillen über verlockende und professionell geführte Internetplattformen gekauft und zu sich genommen und damit vielleicht massiv ihre Gesundheit geschädigt. Im Schnitt seien bei der Bande 200 Bestellungen Bande pro Tag eingegangen, sagt Brandl. An Spitzentagen bis zu 400.

Pillen hießen Kamagra, Cobra oder Slim All

Wie stark Gesundheitsgefahren real sind, auch langfristig? Das ist derzeit noch Gegenstand labortechnischer Untersuchungen. Die Produkte, allesamt Fälschungen oder Kopien von verschreibungspflichtigen Arzneien wie Viagra, wurden in Indien produziert, über Verteilzentren in mehreren westeuropäischen Ländern per Post verschickt und im Netz teilweise unter Originalnamen angeboten - eben nur billiger und ohne den lästigen Gang zum verschreibenden Arzt.

Sie waren bunt eingepackt, hießen Kamagra, Cobra, Slim All oder auch Zoplicon. Das Schlankheitsmittel Slim All im roten Blister kann nach ersten Erkenntnissen die Glaskörper der Augen trüben. Besondere Sorgen macht den Fahndern, dass Antibiotika im Angebot waren, die nur unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden dürfen, um einer späteren Resistenz vorzubeugen.

Auslieferung des Bandenchefs beantragt

Deutschland hat die Auslieferung des geständigen Kopfes der Organisation beantragt, einen 34 Jahre alten indisch-stämmigen Niederländers. Alleine in seiner Wohnung in Den Haag konnte der Zoll 300 000 Tabletten beschlagnahmen. Die drei Duisburger sind zwischen 29, 43 und 65 Jahre alt. Der jüngste hat die Staatsangehörigkeit von Bangladesch, die beiden anderen sind Deutsche.

Ihnen, einem 31-jährigen Mann aus Gelsenkirchen und dem Haager Bandenchef drohen wegen des illegalen Handels mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, weiteren Verstößen gegen das Medikamentengesetz und gegen die Steuergesetze Haftstrafen bis zu zehn Jahren, sagt Oberstaatsanwältin Anette Milk. Im Visier der Ermittler sind aber weitere 20 bis 25 mutmaßliche Helfer des internationalen Netzwerks.

Vermutlich eine riesige Gewinnspanne

Die Gewinnspanne des Quintetts schätzten die Fahnder als „riesig“ ein, so Milk. „Wie hoch die Umsätze waren, steht derzeit noch nicht genau fest“, sagt der Zoll. Die Schätzung für die letzte Zeit belaufe sich auf mehrere hundertausend Euro – pro Monat. Der Weiterverkauf hat teilweise mit tausendprozentigem Aufschlag funktioniert, aber auch so: Neun Cent höchstens ist der Wert der bunten Pille. Das halbe Dutzend kostet den Internet-Kunden dann 25 bis 30 Euro. Am Ende leistete sich die Bande teure Pkw und goldene Uhren und hortete große Summen Bargeld. 440 000 Euro, versteckt in Bilderrahmen, ein BMW und ein Mercedes wurden sichergestellt.

Es ist Muster einer Mafia-Kriminalität, die weg vom Rauschgift führt und mehr Profit bringt. Die Steigerungsraten gerade bei Arzneifälschungen seien „rasant“ in den letzten Jahren, räumt Zoll-Chef Brandl ein. Aber das ganze Geschäftsfeld ist neu für die Ermittler. Es gibt weder eine ordentliche Statistik über mögliche Gesundheitsschäden noch überhaupt Kläger, die Schadenersatz für den körperlichen Schaden verlangen würden. Wahrscheinlich schämen sie sich so wie sie vor dem Internetkauf den Arztbesuch gescheut haben. Für bestimmte Delikte gibt es nicht einmal die Paragraphen im Strafgesetzbuch. Staatsanwälte müssen über juristische Hilfskonstrukte anklagen.