Berlin. Ein Glas des Nahrungsergänzungsmittels AG1 von Athletic Greens soll für eine gesunde Ernährung ohne Aufwand sorgen. Was sagt ein Arzt dazu?

  • AG1 wird als Wunderpulver für die Ernährung angepriesen
  • Dr. Riedl hat das Nahrungsergänzungsmittel für uns analysiert
  • Welche Probleme der Ernährungsmediziner sieht

Fast jeder, der sich nach Ratgebern, Videos oder Podcasts rund um gesunde Ernährung, Sport oder Fitness umsieht, dürfte über das Produkt gestolpert sein: AG1 von Hersteller Athletic Greens. Das angebliche Wundermittel scheint in diesem Umfeld allgegenwärtig. Bei AG1 handelt es sich um ein grünes Pulver, das man mit Wasser anmischen und täglich trinken soll. Das Versprechen: Mit dem Glas am Morgen sollen Konsumenten im hektischen Alltag ihren täglichen Bedarf an den wichtigsten Nährstoffen abgedeckt haben. Kurz: das gute Gefühl einer gesunden Ernährung mit wenig Aufwand.

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Das Nahrungsergänzungspulver soll laut Athletic Greens mehr als 70 Inhaltsstoffe enthalten: neben wichtigen Vitaminen auch Mineralstoffe, Pflanzenstoffe sowie Bakterienkulturen. 87 Euro im Monat müssen gesundheitsbewusste Käufer dafür ausgeben. Das Unternehmen aus New York hat es dank eines mutmaßlich üppigen Marketingbudgets geschafft, dass im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus zahlreiche Profisportlerinnen und -sportler, Influencer, Youtuber und Podcaster für den Drink werben.

Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl erklärt im Interview, was in AG1 tatsächlich drinsteckt und was fehlt, ob sich gesunde Ernährung auch günstiger erreichen lässt und welches Risiko er beim täglichen Konsum des Pulvers sieht.

Herr Riedel, worum handelt es sich beim grünen Pulver AG1 von Hersteller Athletic Greens überhaupt aus ernährungswissenschaftlicher Sicht?

Dr. Matthias Riedl: Das Pulver AG1 verspricht, ein Alleskönner zu sein: Verdauung, Immunsystem, Energiehaushalt, Zellschutz, Hautgesundheit, Hormone und mehr sollen laut Hersteller durch AG1 unterstützt werden. Nach Angaben des Herstellers enthält AG1 über 70 für den Körper wichtige Inhaltsstoffe – Multivitamine, Multimineralstoffe, Bakterienkulturen, Ballaststoffe, Antioxidantien, hochwertige Pilze, natürliche Pflanzenstoffe. Es soll also alles, was dem Körper fehlen könnte, ersetzen und ergänzen.

AG1 gesund? Vitamine laut Ernährungsmediziner teils sehr hoch dosiert

Das klingt doch eigentlich durchaus praktisch im hektischen Alltag. Wie wirkt so ein Versprechen auf Sie als Ernährungswissenschaftler?

Riedl: Es wirkt auf den ersten Blick, als hätte man eine Multivitamintablette mit Prä- und Probiotika, natürlichen Beruhigungsmitteln und Antioxidantien in einen Topf geworfen, ohne zu schauen, was jedem individuell fehlt. Das ist das letztlich Gleiche, als würde man sich die einzelnen Nahrungsergänzungsmittel in der Apotheke kaufen und ohne Blick auf mögliche Mängel zu sich nehmen.

Was fällt Ihnen beim Blick auf die Verpackung noch auf?

Riedl: Was positiv angesehen werden muss, ist die Zertifizierung durch die sogenannte Kölner Liste. Was bestätigt, dass die Produkte rein sind, nicht mit Dopingmitteln versetzt wurden und zumindest einmal extern geprüft wurden.

Mit Blick auf gesunde Ernährung: Was sind die wichtigsten Inhaltsstoffe in AG1 – und welche fehlen Ihnen?

Riedl: Was eindeutig fehlt, ist Vitamin D (*ein Fläschchen Vitamin D ist allerdings der Erstbestellung beigelegt; Anm. d. Red.). Im Vitamin-B-Komplex sind die wichtigsten B-Vitamine vertreten, auch B12. Allerdings liegen sie, bis auf Pantothensäure, bei weit über 100 Prozent der täglichen empfohlenen Nährstoffzufuhr. Beim Vitamin B12 sind es sogar 880 Prozent! Das ist sehr hoch und unspezifisch auf Mängel dosiert.

Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl steht Nahrungsergänzungsmitteln kritisch gegenüber.
Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl steht Nahrungsergänzungsmitteln kritisch gegenüber. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Wozu kann so eine Überdosierung beim täglichen Verzehr schlimmstenfalls führen?

Riedl: Zwar sind B-Vitamine wasserlöslich und können wieder ausgeschieden werden, allerdings kann es dennoch zu Problemen führen. Vitamin B6 beispielsweise ist mit drei Milligramm in einer Dosis mit 214 Prozent der täglichen Empfehlung enthalten. Zum Vergleich: Bei einer täglichen Aufnahme von mehr als 500 Prozent der täglich empfohlenen Dosis kann es zu Nervenstörungen kommen. Dies passiert zwar nicht einfach so, eine Überdosierung ist jedoch möglich und durch das Präparat leichter zu erreichen als ohne.

Nahrungsergänzungsmittel: Was Raucher beachten müssen

Laut Hersteller enthält AG1 „zwei gut erforschte Bakterienstämme“ – was hat es damit auf sich?

Riedl: Die ausgewählten Bakterienstämme Bifidobacterium Bifidum und Lactobacillus acidophilus zeigten in einer randomisiert kontrollierten Studie zusammen mit anderen Bakterienstämmen und Präbiotika – die auch in AG1 enthalten sind – eine Verbesserung der Diversität der Darmflora. Allerdings wurde dieser Effekt nach Absetzten verringert. Ob es also sinnvoll ist, die Bakterienstämme ohne medizinische Notwendigkeit einzunehmen, ist fraglich. Der Effekt hält in der Studie nicht nach Absetzen des Mittels an. Dass es bei AG1 anders ist, ist schwer nachzuvollziehen. Zudem wurden in der Studie Präparate mit noch mehr Bakterienstämmen untersucht.

Unser Experte

Dr. Matthias Riedl ist Ernährungsmediziner, Diabetologe und ärztlicher Direktor des Medicum Hamburg. Seit 2015 ist er Teil der von ihm konzipierten NDR-Sendung „Die Ernährungs-Docs“, in der Dr. Riedl zusammen mit anderen Medizinern Ernährungsstrategien für konkrete Patientenfälle entwickelt. Zu der Sendung wurden mehrere Begleitbücher veröffentlicht. Zudem betreibt Dr. Riedl seit 2022 in Zusammenarbeit mit der Funke Mediengruppe den Podcast „So geht gesunde Ernährung“.

Geworben wird bei AG1 außerdem mit sogenannten Medical Mushrooms, auf Deutsch auch „Heilpilze“, „Vitalpilze“ oder „Medizinalpilze“ genannt. Deren Extrakte sollen laut dem Versprechen nach gegen viele Krankheiten vorbeugend oder sogar therapeutisch wirken.

Riedl: „Medical Mushrooms“ wie Reishi können gesundheitsförderlich sein, eine ausführliche Studienlage zur Dosierung, der genauen Wirkung und auch der Langzeiteinnahme gibt es jedoch nicht.

Unter den angeblich gesundheitsfördernden Nährstoffen bei AG1 findet sich auch Vitamin A.

Riedl: Auf der Hersteller-Website wird suggeriert, dass Vitamin A enthalten ist, in einer Dosis, die 139 Prozent der täglich empfohlenen Menge entspricht. Dieser Wert kam uns sehr hoch vor, gerade für Schwangere. Auf genauere Recherche konnten wir herausfinden, dass es sich um Betacarotin handelt. Es kann im Körper in Vitamin A umgewandelt werden. Achtung: Bei Rauchern kann dies Lungenkrebs fördern.

Ist es sinnvoll, jeden Morgen AG1 oder ein ähnliches Nahrungsergänzungspulver zu trinken, das vermeintlich den Tagesbedarf der wichtigsten Nährstoffe abdeckt?

Riedl: Erst mal ist es wichtig zu sagen, dass man nicht an jedem Tag jeden Nährstoff zu 100 Prozent der empfohlenen Tagesdosis zu sich nehmen muss. Bei einer flexiblen und gesunden Ernährung kann man an einem Tag etwas mehr von Nährstoff A aufnehmen und am nächsten Tag mal etwas weniger. Das gleicht sich im Gesamten aus.

Eine gesunde und ausgewogene Ernährung deckt im Idealfall alle wichtigen Vitamine, Mineralien und sekundären Pflanzenstoffe sowie Ballaststoffe ab. Es gibt aber Ausnahmen. Zum einen Vitamin D, aber das ist in AG1 ja auch nicht enthalten*. Außerdem Vitamin B12, bei Vegetariern und Veganern, und darüber weitere Vitamine und Mineralien je nach individueller Krankengeschichte und Diagnose. Daher sollte die Einnahme von einzelnen Bestandteilen von AG1 in Rücksprache mit Ärzten, Ernährungstherapeuten oder Diätassistenten gezielt gestartet werden.

Riedl: „Verbraucher könnten denken, sie bräuchten jetzt weniger Gemüse“

Der Preis von AG1 ist mit 87 Euro für den Monatsvorrat recht hoch. Können Verbraucher mit herkömmlichen Lebensmitteln aus dem Supermarkt und vielleicht etwas mehr Aufwand bei der Zubereitung ähnliche Effekte erzielen?

Riedl: Der Nährstoffbedarf einer gesunden Person mit vielen der enthaltenen Inhaltsstoffe ist über eine gesunde, ausgewogene Vollkost-Ernährung zu decken. Ernährungsempfehlungen wie die „10 Regeln der DGE“ können Konsumenten dabei unterstützten. Durch die Verwendung von jodiertem und fluoriertem Speisesalz kann auch hier der Bedarf ohne Supplemente gedeckt werden. Auch hier enthält AG1 keine geeigneten Quellen zur Deckung des Tagesbedarfs. Personen, die ihre Lebensmittelauswahl einschränken müssen oder dies freiwillig wählen, sollten sich durch ärztliche oder ernährungstherapeutische Betreuung ein individuelles Angebot für eine Supplementierung erstellen lassen.

Ausgewogene Ernährung: Tipps von Ernährungs-Doc Dr. Matthias Riedl

  • Essen Sie fünf Hände voll Obst (2x) und Gemüse (3x) am Tag,
  • Nutzen Sie Vollkorn-Produkte,
  • Essen sie prä- und probiotische Lebensmittel: Joghurt (auch vegan), Kefir, Buttermilch, Kimchi, Sauerkraut etc.,
  • Essen Sie Hülsenfrüchte und Nüsse,
  • „Eat the rainbow“: Seien Sie flexibel und abwechslungsreich in ihrer gesunden Lebensmittelauswahl.

Eine Ausnahme stellt zum Beispiel das Vitamin D dar, da dies auch durch körpereigene Synthese gebildet wird. Der Bedarf muss also in der Regel nicht ausschließlich über die Nahrung gedeckt werden. Bei bestimmten Personen, die zum Beispiel weniger häufig Sonnenlicht abbekommen, kann eine Supplementierung notwendig werden, insbesondere in den Wintermonaten. Hier kann AG1 jedoch auch nicht helfen, da es kein Vitamin D enthält*.

Andersherum gefragt: Gibt es eine Zielgruppe, der man so ein morgendliches Nahrungsergänzungspulver empfehlen kann?

Riedl: Ganz klar, nein. In diesen Präparaten ist alles hineingeworfen, was den Ruf von Gesundheit hat – ohne Rücksicht auf einen wahrscheinlichen Mangel, und das auch noch in Überdosierung, wie bei Vitamin B6, mit der Gefahr von irreversiblen Nervenschäden. Für B3 wird eine beschleunigte Arterienverkalkung vermutet. Bei Bakterienmischungen ist neben einem eventuell fehlenden Vorteil nicht auszuschließen, dass es Nachteile für die Gesundheit gibt. Dazu fehlen Studien.

Eines ist aber sicher: Raucher müssen mit einem erhöhten Risiko für Lungenkrebs rechnen. Alle Studien über Multivitaminpräparate zeigen keinen Effekt für die Verhinderung von Herzinfarkten oder für eine Lebensverlängerung. Schlimmer noch: Verbraucher könnten denken, sie bräuchten jetzt weniger Gemüse.

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Folge 50: Ernährungs-Doc warnt: Vorsicht bei Nahrungsergänzungsmitteln

Dr. Matthias Riedl - So geht gesunde Ernährung

Das sagt AG1 zu Dr. Riedls Analyse

AG1 hat auf einzelne Einschätzungen von Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl mit einer eigenen Darstellung reagiert, die wir an dieser Stelle wiedergeben wollen:

  • Mit Blick auf individuelle Bedürfnisse von Konsumenten heißt es seitens des Herstellers: „AG1 konzentriert sich auf Prävention und bietet ein umfassendes Nährstoff-Fundament. Es geht weniger darum, individuelle Mängel zu adressieren, sondern eine generelle Unterstützung der Gesundheit zu bieten.“
  • Zum Fehlen von Vitamin D und den zugesetzten B-Vitaminen meint AG1: „Vitamin D wurde bewusst weggelassen, da es in den Sommermonaten nicht immer notwendig ist. Außerdem kann Vitamin D3 vom Körper nur schwer aus der Nahrung aufgenommen werden und ist in Ölform wirksamer. Da wir bei AG1 niemals Kompromisse bei der Qualität eingehen, wird AG1 Vitamin D3+K2 separat von AG1 formuliert, um sicherzustellen, dass die hochwertigen Vitamine von Ihrem Körper aufgenommen werden. Unsere B6-Dosierung liegt im sicheren Bereich und entspricht den gängigen Standards in der Branche. AG1 enthält 5 mg Vitamin B6, was deutlich unter dem von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) festgelegten oberen Grenzwert von 12 mg pro Tag liegt.“
  • Zur enthaltenen Dosis von Vitamin A heißt es: „In AG1 ist kein Vitamin A in schädlicher Dosierung enthalten. Tatsächlich enthält das Produkt nur 31 Prozent des empfohlenen Tagesbedarfs. Wir möchten auch darauf hinweisen, dass AG1 immer darauf hinweist, dass das Produkt nicht für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, schwangere und stillende Frauen geeignet ist.“
  • Zum Verzicht von Jod in der Rezeptur: „Wie auch Vitamin D wurde Jod bewusst nicht in die Rezeptur aufgenommen, da die meisten Menschen ihren Bedarf über jodiertes Speisesalz decken können.“