Berlin. Kijimea Reizdarm Pro stand mehrfach in der Kritik. Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl erklärt, ob die Pillen bei Reizdarm sinnvoll sind.
Blähungen, Bauchschmerzen, Durchfall oder Verstopfung: Wenn diese Symptome immer wieder auftreten, sprechen Fachleute von einem sogenannten Reizdarmsyndrom. Laut dem Barmer Arzt Report 2019 leiden in Deutschland rund elf Millionen Menschen an dieser funktionellen Magen-Darm-Erkrankung. Das entspricht etwa jedem Siebten.
Lange Zeit ging man davon aus, dass das Reizdarmsyndrom psychische oder psychosomatische Ursachen hat. Heute gilt es als körperliche Erkrankung, bei der Faktoren wie genetische Veranlagung, Infektionen, Allergien und das Mikrobiom eine wesentliche Rolle spielen. Betroffene leiden enorm unter den chronischen Beschwerden, die die Lebensqualität mindern und die Psyche belasten.
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Kijimea Reizdarm Pro: Heilmittel oder Hype?
Hier soll neben anderen Mitteln das Produkt Kijimea Reizdarm Pro ansetzen – zumindest, wenn es nach dem Hersteller Synformulas geht. In einem Werbevideo für die viel beworbenen Kapseln heißt es etwa: „Ständig diese Bauchschmerzen, Durchfall und Blähungen. Dann wurde mir in der Apotheke das neue Kijimea empfohlen. Meine Darmbeschwerden sind wie weg.“ Die Botschaft ist klar: Mit Kijimea Reizdarm Pro gehören Reizdarmbeschwerden der Vergangenheit an.
Aber ist das wirklich so einfach? Wir fragen den Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl. Er erklärt, dass das Reizdarmsyndrom in der Regel nicht mit einer einzigen therapeutischen Maßnahme behandelt wird, sondern mit einer Kombination verschiedener Therapieansätze. „Das Ganze geschieht individuell und symptombezogen“, sagt Riedl.
Das ist wichtig, denn es gibt verschiedene Typen des Reizdarmsyndroms:
- diarrhoe-dominante (vor allem Durchfall),
- obstipations-dominante (vor allem Verstopfung) und
- Mischtypen, bei denen sich die Beschwerden abwechseln.
Durch eine Kombination von Ernährungstherapie, psychosomatischen Maßnahmen, körperlicher Aktivität und Medikamenten kann die Behandlung auf den jeweiligen Reizdarm-Typ abgestimmt werden.
Die Studie hinter Kijimea: Ein Blick auf die Fakten
Auch die Gabe ausgewählter Probiotika wird in der aktuellen S3-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom empfohlen. Mehrere Stämme kommen dafür infrage – darunter auch das in Kijimea Reizdarm Pro enthaltene Bifidobacterium bifidum MIMBb75. Laut der Produkt-Website des Herstellers soll dieser Bakterienstamm den gereizten Darm „wie ein Pflaster“ schützen.
Dort wird auch die Studie genannt, die diese Aussagen belegen soll. „In der weltweit größten OTC-Reizdarmstudie mit über 440 Patienten konnte gezeigt werden, dass Kijimea Reizdarm Pro die typischen Symptome eines Reizdarmsyndroms, wie wiederkehrender Durchfall, Bauchschmerzen oder Blähungen, lindert“, ist dort zu lesen.
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In der genannten Studie, die im Fachjournal „The Lancet Gastroenterology & Hepatology“ veröffentlicht wurde, erhielten Personen mit Reizdarmsyndrom über einen Zeitraum von acht Wochen entweder Kijimea Reizdarm Pro oder ein Placebo. Der Therapieerfolg wurde daran gemessen, ob Kijimea Reizdarm Pro in mindestens vier der acht Einnahmewochen eine 30-prozentige Reduktion der Bauchschmerzen im Vergleich zum Ausgangswert sowie eine spürbare Besserung der Reizdarmsymptome bewirkte.
In der Kijimea-Gruppe erreichten 34 Prozent der Teilnehmenden das Studienziel, in der Placebo-Gruppe gaben 19 Prozent eine vergleichbare Besserung an. 60 Prozent der Teilnehmenden gaben an, eine allgemein spürbare Linderung ihrer Symptome wahrzunehmen.
Das Studienergebnis sei zwar statistisch signifikant, so Riedl, da die Wirkung über den Placeboeffekt hinausgehe. Klinisch sei der Effekt dennoch als gering einzustufen. „Die Ergebnisse zeigen nämlich auch, dass die Probleme nicht ‚wie weg‘ sind und das Mittel bei vielen Personen auch keinerlei Besserung gebracht hat“, so der Experte. Kijimea suggeriere in der Werbung also größere Effekte, als tatsächlich nachweisbar sind.
Kritik an der Studie: Herstellerabhängigkeit und Marketing
Auch von anderer Seite wurde die von Synformulas zitierte Studie bereits kritisiert. So bemängelte die Fachzeitschrift „arznei-telegramm“ vor einigen Jahren, dass Synformulas die betreffende Studie selbst in Auftrag gegeben habe. Das ist problematisch, denn eine vom Hersteller selbst in Auftrag gegebene Studie birgt potenziell Interessenkonflikte und stellt die Unabhängigkeit der Forschungsergebnisse infrage.
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Wir haben bei Synformulas nach den Hintergründen der Studie gefragt und folgende Antwort erhalten: „Die (…) Studie zu Kijimea Reizdarm PRO, (…), wurde 2020 in The Lancet, einem der renommiertesten peer-reviewed Journals weltweit, veröffentlicht. Eine Veröffentlichung in The Lancet folgt auf einen aufwändigen Peer-Review Prozess mit mehreren Blind Reviews von anerkannten Experten, in welcher die Studienergebnisse auf Methodik und Bedeutung für Wissenschaft und Patienten überprüft werden. Dieser Prozess stellt bereits vor Veröffentlichung sicher, dass in The Lancet nur Studien von angemessener Qualität und Relevanz veröffentlicht werden.“
Inwieweit wird aber auch mit unabhängigen wissenschaftlichen Institutionen zusammengearbeitet, um die Glaubwürdigkeit der Forschungsergebnisse zu erhöhen und mögliche Interessenskonflikte auszuschließen? Dazu erklärt Synformulas: „Die Zusammenarbeit mit Forschern, die an renommierten wissenschaftlichen Einrichtungen tätig sind, ist für Synformulas von entscheidender Bedeutung und wird von uns seit vielen Jahren intensiv verfolgt.“ Konkrete Angaben, etwa zu unabhängigen Prüfverfahren, machte das Unternehmen nicht.
Teures Medizinprodukt: Kosten und Nutzen im Vergleich
Zudem stellt sich die Frage, wie die Studienergebnisse vor dem Hintergrund der rechtlichen Einordnung des Produkts zu bewerten sind. Matthias Riedl erklärt: „Bei Kijimea Reizdarm Pro handelt es sich um ein Medizinprodukt, für das – im Gegensatz zu Arzneimitteln – kein Wirksamkeitsnachweis erbracht werden muss. Die klinische Bewertung liegt allein in der Verantwortung des Herstellers.“ Das heißt, Kijimea Reizdarm Pro unterliegt nicht der strengen wissenschaftlichen Prüfung wie Arzneimittel, die ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachweisen müssen.
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„Diese Regelung geht eindeutig zu Lasten der Konsumentinnen und Konsumenten“, kritisiert Riedl. Er betont, dass eine klare Trennung zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten durch den Gesetzgeber notwendig ist, um Missverständnisse und irreführende Werbeaussagen zu vermeiden. Diese Verwirrung werde von vielen Herstellern zu ihrem wirtschaftlichen Vorteil ausgenutzt, warnt Riedl. Für Verbraucher bleibe oft unklar, welcher Nutzen tatsächlich hinter den beworbenen Wirkungen stehe. Zudem seien Präparate wie Kijimea oft deutlich teurer als vergleichbare zugelassene Medikamente.
Wir konfrontieren Synformulas mit dem Vorwurf, dass Kijimea Reizdarm Plus durch sein Marketing eine arzneimittelähnliche Wirkung suggeriert. Eine Antwort darauf bleibt das Unternehmen jedoch schuldig. Und wie rechtfertigt die Firma den vergleichsweise hohen Preis ihres Produkts – obwohl es sich um ein Medizinprodukt handelt, das keinen Wirksamkeitsnachweis wie Arzneimittel erbringen muss? Auch hierauf erhalten wir auf Nachfrage keine Antwort.
Fazit: Probiotika – möglicher Teil einer Therapie, aber kein Wundermittel
Trotz aller Kritik – Fakt ist: Die offizielle S3-Leitlinie empfiehlt die Gabe von Probiotika, wie das in Kijimea Reizdarm Pro enthaltene Bifidobacterium bifidum MIMBb75. Das betont auch das Unternehmen Synformulas gegenüber dieser Redaktion.
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„Wichtig ist aber, dass man nicht nur auf Probiotika setzt und hofft, dass damit die Reizdarmprobleme verschwinden“, sagt Riedl. Er sieht Präparate wie Kijimea Reizdarm Pro dann kritisch, wenn Patientinnen und Patienten davon abgehalten werden, eine individuelle Ernährungstherapie und andere bewährte Maßnahmen auszuprobieren, wie sie etwa in Schwerpunktpraxen für Ernährungsmedizin durchgeführt werden. „Der Griff zur Pille könnte wirklich wirksame Maßnahmen verzögern“, sagt Riedl. „Das sehe ich als große Gefahr.“
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Sie wollen mehr über den Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit erfahren? Dr. Matthias Riedl geht im Jahr 2025 mit seinem Programm „Gesunde Ernährung – Einfacher als gedacht“ auf Tour. Dabei spricht er vor allem über den Einfluss der Ernährung auf ein möglichst langes Leben und die eigene Psyche. Geplant sind folgende Termine: 14. März in Berlin (Urania), 16. März in Köln (Gürzenich) und am 19. Juni in Hamburg (Laeiszhalle). Mehr Informationen und Tickets (ab 34,55 Euro) gibt es unter www.neuland-concerts.com und www.eventim.de.