Berlin. Rosa für Mädchen, Blau für Jungs – viele Eltern leben ihren Kindern Geschlechterrollen vor. Ein Paar aus Berlin will es anders machen.
Als Katharina Wohlrab schwanger wird, macht sie das, was viele werdende Eltern machen. Sie überlegt sich Mädchen- und Jungennamen – weil sie diese süß findet oder schon immer im Kopf hat. „Irgendwann meinte meine Frau zu mir, dass das nicht zu uns passt, wenn wir unserem Kind einen typischen Mädchen- oder Jungennamen geben“, erinnert sie sich. „Denn wir wissen, welche Stereotype mit so einem Namen einhergehen. Deshalb können wir etwas verändern, wenn wir unserem Kind einen genderneutralen Namen geben.“ Wie das Kind heißt, will das Paar nicht öffentlich machen.
Oftmals erfährt ein Kind Zuschreibungen aufgrund seines biologischen Geschlechts, bevor es überhaupt auf der Welt ist. Da werden Zimmer blau angestrichen und nur Autos oder rosa Strampler mit Rüschen gekauft. Doch Geschlechterrollen werden nicht nur angeboren. Obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass sich die Gehirne von Mädchen und Jungen etwas unterschiedlich entwickeln, sind sich Psychologinnen und Pädagogen einig: Ein großer Teil der Geschlechterrolle ist anerzogen.
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Geschlechterneutrale Erziehung will deshalb die freie Entfaltung des Kindes in den Mittelpunkt stellen, abseits von Stereotypen und gesellschaftlichen Erwartungen. Das bedeutet, dass nicht binär zwischen Mädchen und Jungen unterschieden wird. Die Kinder werden nicht typisch männlich oder weiblich erzogen, um sie nicht in eine bestimmte Rolle zu drängen. Kinder, die so aufwachsen, können sich mit einem Geschlecht identifizieren, werden aber nicht darauf begrenzt.
Genderneutralen Erziehung: Das sind die Vorteile
Für Katharina und ihre Frau Anna heißt das im Alltag, dass ihr Kind Kleidung in allen Farben trägt und mit allen Spielsachen spielt. „Wir achten zudem sehr auf unsere Sprache“, sagt Katharina. „Wenn ich beispielsweise ein anderes Kind sehe, dann sage ich nicht ,Schau mal der Junge’, sondern ich sage ,Schau mal das Kind‘“. Wird in Kinderbüchern nicht gegendert, dann lesen sie es trotzdem gegendert vor. „Uns ist es wichtig, dass unser Kind so lange, bis es selbst entscheiden kann und weiß, wie es sich wohlfühlt, alle Möglichkeiten hat“, erklärt Katharina ihre Beweggründe.
Eine Metastudie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung kommt zu dem Ergebnis, dass im jungen Alter umgesetzte Maßnahmen zur Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter Vorurteile abschwächen können. Und: Jungen und Mädchen können tatsächlich negativ davon beeinflusst werden, wenn sie im Laufe ihrer Entwicklung Ungerechtigkeiten erfahren, die sich auf ihr Geschlecht zurückführen lassen.
„Aus einer stereotypen Erziehung resultiert, dass Mädchen beispielsweise später leichter Opfer häuslicher Gewalt werden“, sagt der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg. „Das ist kritisch zu sehen, denn in der Erziehung sollte immer empowernd vorgegangen werden und die Selbstbestimmung von Kindern gefördert werden.“
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Katharina und Anna berichten von Hass in sozialen Medien
Geschlechterneutral erzogene Kinder denken weniger in geschlechtsspezifischen Stereotypen und zeigen sich aufgeschlossener für Kinder des anderen Geschlechts, wie eine schwedische Studie herausfand. „Bei einer sehr starken, auf ein Geschlecht ausgerichteten Erziehung nehmen die Eltern in Kauf, dass ein Kind tief traurig ist, wenn es zum Beispiel als Junge kein Kleid anziehen darf, obwohl es das gerade möchte“, sagt Voß. „Bei einer geschlechterneutralen Erziehung hingegen wäre sowas kein Problem, weil das Kleid nicht so aufgeladen wäre als etwas Weibliches.“
Dass Katharina und ihre Frau Anna ihr Kind genderneutral erziehen, wird von ihrem Umfeld nicht groß thematisiert. „Mich hat positiv überrascht, dass es sehr viele Menschen im realen Leben nicht interessiert“, sagt Katharina. „Manche fragen, wie wir das umsetzen, aber Kritik gibt es wirklich wenig.“ In den sozialen Medien hingegen, wo Katharina regelmäßig über ihr Elternsein berichtet, sei sie mit sehr viel Hass konfrontiert worden.
„Eine häufige Kritik ist, dass wir unserem Kind Dinge verbieten würden, aber genau das Gegenteil ist der Fall“, sagt Katharina: „Wir erlauben alles ohne irgendeinen Hintergedanken und ohne einen Spruch nebenher. Wir begleiten alle Gefühle. Ich glaube, dass unser Kind davon profitieren kann und zu einem Menschen aufwachsen wird, der sich selbst gut fühlt und gute Entscheidungen treffen kann.“
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„Pronomen sind nicht in Stein gemeißelt“
Mit 15 Monaten geht das Kind von Katharina und Anna noch nicht in die Kita, einen Platz für das kommende Jahr haben sie aber schon. Die genderneutrale Erziehung habe bei den bisherigen Gesprächen keine Rolle gespielt. „Ich kann mir vorstellen, dass unsere genderneutrale Erziehung dort gar kein Thema sein wird“, sagt Katharina. „Sollte es dann doch ein Thema werden, ist es bei Elterninitiativen-Kitas relativ leicht, sich dann einzubringen und Dinge mit anzustoßen.“
Kitas, Horte sowie Einrichtungen der Kinder-, Jugendhilfe und Behindertenhilfe sind in Deutschland an Paragraf 9 des fünften Sozialgesetzbuchs gebunden. „All diese Einrichtungen müssen Materialien haben, die Geschlechtsoffenheit thematisieren“, sagt der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß. „Es geht laut Gesetz nicht nur darum, Benachteiligungen zu vermeiden, sondern auch darum, die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu fördern.“ Und in der Schule steht das im Rahmen der Sexualerziehung auf dem Lehrplan. „Die reale Umsetzung ist hier aber noch so schlecht, dass ich aus wissenschaftlicher Sicht schon froh wäre, wenn Lehrkräfte wenigstens eine stereotype Sexualpädagogik vernünftig umsetzen könnten“, so Voß.
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Für Katharina und Anna ist die Schulzeit noch weit weg. Bis dahin wollen sie ihrem Kind durch die genderneutrale Erziehung vor allem eins mitgeben: „Alles ist okay – wie es sich fühlt, wer es ist“, sagt Katharina. „Es ist okay, sich zu entscheiden. Identität und Pronomen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern dürfen sich anpassen und verändern, denn wir als Menschen bleiben auch nicht immer gleich und verändern uns.“