London. . Wer eine Vollnarkose scheut, könnte sich für eine OP alternativ in Hypnose versetzen lassen - kombiniert mit örtlicher Betäubung. In Belgien wird das Verfahren immer öfter praktiziert. Es ist aber nicht bei jedem möglich.
Während der Chirurg das Skalpell ansetzt, um die Schilddrüse zu entfernen, wähnt sich die Patientin am Strand, vernimmt das sanfte Auslaufen der Wellen, spürt, wie ihre Zehen sich in den warmen Sand eingraben. Aus dem CD-Spieler tönen leise Musik und Meeresrauschen, während die Narkoseärztin leise und beruhigend spricht: So oder so ähnlich kann eine Operation unter Hypnose ablaufen. Patienten, die künstlich in einen Trancezustand versetzt wurden, sind betäubt und doch bei Bewusstsein; ihre Erholungsphase ist nach Auskunft der Mediziner kürzer und sie benötigen weniger schmerzstillende Medikamente.
Am belgischen Krankenhaus Cliniques Universitaires St. Luc in Brüssel unterzieht sich eine steigende Anzahl von Patienten einem chirurgischen Eingriff, bei dem hypnotische Verfahren und lokale Betäubung kombiniert werden. Anders als bei der Vollnarkose mit lang andauerndem Knock-out-Effekt fühlen sich die frisch Operierten im Anschluss weniger matt und wackelig auf den Beinen.
Stress, Angstgefühle und Schmerzen vermindern
Seit 2003 bieten die Ärzte am St.-Luc-Krankenhaus die sanfte Betäubungsmethode an; in einer anderen belgischen Klinik wurden auf diese Weise seit 1992 inzwischen mehr als 8.000 Operationen durchgeführt. Auch in Frankreich erfreut sich die Alternative zur Vollnarkose mittlerweile steigender Beliebtheit. Während in Großbritannien die Zahnmedizin Vorreiter ist, hat die Hypnose in Deutschland überwiegend Einzug in einige OP-Säle der plastischen und der Gesichtschirurgie gehalten. Die Französische Vereinigung der Anästhesisten (SFAR) beschreibt die Hypnose als ergänzende verlässliche Narkosemethode, um Stress, Angstgefühle und Schmerzen zu vermindern.
Als Reaktion auf die steigende Nachfrage hat die SFAR im vergangenen Jahr eine auf Hypnose spezialisierte Dependance gegründet. Im Unterschied zur positiven Entwicklung in Frankreich bieten bislang weder belgische noch britische Fachverbände zu diesem Thema konkrete Empfehlungen oder gar Beratungen für Anästhesisten an.
Keine verlässlichen Zahlen
Zuverlässige Zahlen darüber, wie verbreitet die Praxis der Hypnose in Europa ist, liegen zurzeit nicht vor. Laut Claude Virot, Psychiater und Leiter des Instituts für Forschung und Ausbildung in therapeutisch ausgerichteter Kommunikation, kommt die Hypnose in Rennes, einer im Nordwesten Frankreichs gelegenen Stadt mit etwa 200.000 Einwohnern und über einem Dutzend Krankenhäusern, bei etwa der Hälfte aller Operationen zum Einsatz. Virot organisiert das Training von Hypnosetechniken, an dem pro Jahr ungefähr 500 Mitarbeiter im Gesundheitswesen teilnehmen.
Während der Kranke unter ärztlicher Beobachtung in einem durch Suggestion hervorgerufenen schlafähnlichen Bewusstseinszustand an einem für ihn angenehmen Ort weilt, unternimmt der Mediziner im OP-Saal Eingriffe wie Biopsien, Brustkrebsoperationen, das Entfernen von Tumoren, der Brust, Schilddrüse oder Gebärmutter. Zeigt der Patient bei einer Operation unter Hypnose Anzeichen erhöhter Sensibilität wie mehrfaches Stirnrunzeln oder Augenflackern, wird der Mediziner bei Bedarf sofort ein Schmerzmittel spritzen.
Nicht jede OP für Hypnose geeignet
So angenehm die Wirkungen der Hypnose für Patienten auch sein können - längst nicht jede Operation und jeder Patient ist für eine derartige Behandlung geeignet. Experten raten zur Vorsicht bei größeren Eingriffen wie etwa Operationen am Herzen oder an anderen inneren Organen. "Wenn die Hypnose nicht funktioniert und man hat den Bauchraum oder die Brust eines Patienten geöffnet, dann hat man ein Riesenproblem", erklärt George Lewith, Professor für Gesundheitsforschung an der Southampton-Universität in Großbritannien. "Man muss rasch zu einer anderen Methode überwechseln können."
Im Übrigen ist es unabdingbar, dass der Patient selbst von der Wirksamkeit der Hypnose überzeugt ist und dem medizinischen Personal umfassendes Vertrauen entgegenbringt. Inwieweit hypnotische Verfahren sich in der Chirurgie durchsetzen, hängt von der Aufgeschlossenheit der Ärzteschaft, den Aus- und Fortbildungsangeboten und nicht zuletzt von der Finanzlage ab.
Ob mithilfe der Hypnose in der Chirurgie Geld eingespart werden kann, ist schwer einzuschätzen. Die wenigen Studien, die vorliegen, führten zu einander widersprechenden Ergebnissen. Den Patienten freilich erspart das sanfte Narkoseverfahren den mit chemischen Substanzen angereicherten Betäubungscocktail, dessen Langzeitwirkungen noch längst nicht hinreichend erforscht sind. (AP)