Düsseldorf. Land, Regierungsbezirk, Kreis, Stadt - viele reden bei Unterkünften mit . Nur oft die Nachbarn nicht. Der Ärger in NRW reißt nicht ab.

Der Notruf ging am Dienstagabend gegen 22 Uhr ein. In der „Zeltstadt Selm-Bork“, einer zentralen Flüchtlingsunterkunft des Landes auf dem Gelände der Polizeischule LAFP, hatten sich 50 bis 70 wütende Bewohner am Infopoint versammelt. Auch Steine sollen geflogen sein. Offenbar war den zumeist arabischstämmigen Männern verboten worden, einen Elektrokocher unter brennbaren Zeltplanen zu benutzen. „Die Mitarbeiter zogen sich aus Angst zurück“, meldete die Kreispolizeibehörde Unna, die mit zahlreichen Kräften anrücken musste.

Landrat Mario Löhr (SPD) sprach am nächsten Tag von „Lagerkoller“ und Zuständen, die für Mitarbeiter und Anwohner nicht länger tragbar seien. Das Land müsse die Zeltstadt zum Jahresende schließen, forderte er ultimativ.

Dazu muss man wissen, dass Löhr noch zu Jahresbeginn der Landesregierung schriftlich angeboten hatte, im Kreis Unna 3000 Flüchtlinge aufzunehmen. Wenn das Land die Kosten trage, werde man die Menschen auf die Städte verteilen und versuchen, sie zu integrieren. Die Grundstimmung der Bevölkerung schien positiv, vor allem gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine war große Hilfsbereitschaft der Bürger zu spüren. „Das wird eine Herausforderung für uns, aber keine Überforderung“, schrieb der Landrat zuversichtlich an den Arnsberger Regierungspräsidenten Heinrich Böckelühr.

Land erreicht sein selbst gesetztes Ziel von 34.500 Unterbringungsplätzen bislang nicht

Stattdessen bekam der Kreis die Zeltstadt Selm, in der heute 750 Männer aus unterschiedlichsten Kulturkreisen leben. Seither hagelt es Beschwerden Richtung Düsseldorf. Die Vorfälle vom Dienstagabend hätten „das Fass zum Überlaufen“ gebracht, klagt der SPD-Landtagsabgeordnete Rainer Schmeltzer. „Die Landesregierung darf sich nicht länger wegducken und muss reagieren“, so 62-jährige SPD-Politiker, der in Selm seinen Wahlkreis hat.

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Schmeltzer hält sich eigentlich zurück, denn er will als Landtagsvizepräsident und ehemaliger NRW-Minister mit Zuständigkeit auch für Integrationsfragen nicht als oberster Kritiker auftreten. Doch die Vorfälle in Selm reihen sich ein in eine Serie von Kommunikationsstörungen zwischen Anwohnern von großen Flüchtlingsunterkünften und der schwarz-grünen Landesregierung.

In Mülheim-Raadt hatten zuletzt Nachbarn einer neuen Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) mit über 600 Plätzen eine Belästigung durch Lärm und Müll beklagt. Das Leben im Stadtteil Raadt habe sich binnen vier Wochen „drastisch verändert“, hieß es in einem Beschwerdebrief einzelner Nachbarn, der auch Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) und Innenminister Herbert Reul (CDU) erreichte. In Arnsberg wurden Pläne für eine Flüchtlingseinrichtung zuletzt nach wüsten Protesten bei einer Bürgerversammlung sogar komplett fallengelassen. In Gladbeck will das Land gegen den Willen der Stadt ein Hotel in eine Großeinrichtung umwidmen.

Keine Bildungs- und Betreuungsangebote? Land NRW wehrt sich

SPD-Landtagsfraktionsvize Lisa Kapteinat moniert „Schwierigkeiten bei der Kommunikation und fehlende Beteiligung bzw. Berücksichtigung kommunaler Entscheidungen“. In einer parlamentarischen Anfrage an Flüchtlingsministerin Paul, die unserer Redaktion vorliegt, will sie wissen, wie die Landesregierung „die Akzeptanz der Landesunterkünfte in der Gesellschaft zu verbessern“ gedenke. Das Land habe sein selbst gesetztes Ziel von 34.500 Plätzen in landeseigenen Unterkünften bisher noch immer nicht erreicht.

„Das Land ist bestrebt, die Kommunen weiter durch den Ausbau der Landesunterbringung zu entlasten, ist dabei aber auch bei der Schaffung weiterer Landeskapazitäten auf die Kooperation mit den Kommunen angewiesen“, erklärte Pauls Sprecherin am Donnerstag auf Anfrage. Die Landesregierung weist auch den Vorwurf zurück, man pferche Männergruppen in Großeinrichtungen zusammen und kümmere sich danach nicht mehr um sie. Gerade weil man Sicherheitsstandards garantiere sowie Bildungs- und Betreuungsangebote mache, müssten zentrale Landesunterkünfte eine gewisse Größe haben.

89 Prozent der Landesunterkunftsplätzen in NRW sind bereits mit Flüchtlingen belegt

In den vergangenen Monaten zeigte sich immer wieder, dass es bei der Standortsuche für Flüchtlingsunterkünfte sehr unterschiedliche Interessen gibt. NRW betreibt aktuell landesweit 28 Zentrale Unterbringungseinrichtungen (ZUE). Sie seien aktuell zu 89 Prozent ihrer aktiven Kapazität ausgelastet. „Das Land arbeitet daher weiterhin mit Hochdruck am Ausbau der Landeskapazitäten“, so das Ministerium. Die dort untergebrachten Flüchtlinge werden auf die sonstige Aufnahmeverpflichtung der jeweiligen Standortkommunen angerechnet. Deswegen haben Bürgermeister kleinerer Städte bisweilen ein Interesse, dem Land eine ZUE-Liegenschaft anzubieten, um die Unterbringung von Flüchtlingen in der Regie des Landes zu bündeln. Vermieter von leerstehenden Gebäuden, die vom Land als Unterkünfte hergerichtet werden, freuen sich wiederum über sichere Mieteinnahmen. Nur mit den Anwohnern wird oft zu spät gesprochen.