Essen. Über 140.000 Menschen sind im vergangenen Jahr in NRW aus der katholischen Kirche ausgetreten. Das wird Auswirkungen auf das Sozialsystem haben.
Noch nie sind in einem Jahr so viele Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten wie 2022. Die Zahl der Ausstiege lag im vergangenen Jahr bei 522.821, teilte die Deutsche Bischofskonferenz am Mittwoch mit. Das sind deutlich mehr als im Rekordjahr 2021, als knapp 360.000 Katholiken der Kirche den Rücken kehrten. Allein in NRW traten mehr als 143.000 Katholiken aus der Kirche aus.
„Die katholische Kirche scheint sich weiterhin im freien Fall zu befinden“, sagt der Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer. Mit 14.093 Menschen haben im vergangenen Jahr so viele Katholiken ihren Austritt im Bistum Essen erklärt wie nie zuvor. Erstmals in seiner Geschichte gehören nun weniger als 700.000 Menschen zum Bistum. Angesichts der zahlreichen Missbrauchsskandale und der Meineid-Vorwürfe gegen den umstrittenen Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki sei dies keine überraschende Entwicklung. Die breite Öffentlichkeit habe den Eindruck, so Pfeffer, „dass wir widersprüchlich, unbeholfen und viel zu zaghaft den Weg der Aufklärung und Aufarbeitung gehen“.
Kirche in der Abwärtsspirale
Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Uni Münster, sieht die katholische Kirche in einer Abwärtsspirale. „Sie kann den Trend kaum stoppen, er beschleunigt sich sogar“, sagt der Wissenschaftler der Uni Münster. Sie könne Schuld bekennen oder Reformwillen zeigen, „das hilft alles nichts“. Das öffentliche Meinungsbild über die Kirche habe sich verfestigt und werde durch aktuelle Skandale immer wieder bestätigt. Die Austrittszahlen hätten im Vergleich zum Vorjahr um rund 45 Prozent zugenommen, das sei für die Kirche dramatisch. „Wenn das so weiter geht, marginalisiert sich die Kirche in der Gesellschaft.“
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Als Hauptursachen dieser Entwicklung sieht Pollack die Missbrauchsskandale und den Umgang der Kirche mit der Aufarbeitung der Fälle und mit den Opfern. Die hierarchische Struktur der Kirche sowie die Rolle der Frauen würden viele Menschen nicht mehr überzeugen. „Hinzu kommt: In Krisenzeiten sind auch die Kirchensteuern ein wichtiger Austrittsgrund.“
Staat verliert wichtigen Eckpfeiler
Die Austrittszahlen betreffen aber nicht nur die Kirchen selbst. „Der Staat verliert einen wichtigen Eckpfeiler in der Bildungs- und Sozialpolitik“, sagt der Kirchenrechtler Thomas Schüller der WAZ. „Der Wegfall von kirchlichen Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, der bald einsetzen wird, wird den Staat ins Mark treffen und für alle Steuerzahlenden teuer werden“, so der Theologe. „Das ist die Tragödie unserer Tage.“
Auch die evangelische Kirche hatte 2022 mehr Mitglieder verloren als im Jahr davor. Die Zahl der Mitglieder sank nach EKD-Angaben um 2,9 Prozent auf 19,15 Millionen Menschen. Allein die beiden evangelischen Landeskirchen Rheinland und Westfalen verloren durch Austritte rund 77.000 Mitglieder. Bundesweit verlor die evangelische Kirche 2022 rund 380 000 Mitglieder.
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