Dortmund. Studien zufolge haben viele Kinder in NRW Probleme beim Lesen und Rechnen. Ein Besuch in der Nordmarktgrundschule, wo es um mehr als Wissen geht.

Um kurz nach acht sitzt Yasmina als eine der ersten in der „Dachsklasse“. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht umklammert sie ihr neues Notizbuch mit den vielen bunten Schmetterlingen drauf. Ein Sonderangebot bei Tedi, „das hat mein Papa mir gekauft“, sagt die Sechsjährige und drückt das Buch noch ein bisschen fester an sich. Nach und nach kommen auch Ahmad, Bilal und Reiko dazu. Hadar kommt etwas später, er hat sich noch für ein paar Cent einen Bleistift am Schulkiosk gekauft. Den hält er nun wie eine Trophäe in die Luft.

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Es gibt gute Gründe dafür, warum der Unterricht an der Dortmunder Nordmarktgrundschule erst um halb neun anfängt. „Viele Kinder kommen hungrig zur Schule und holen sich hier erstmal ein Brötchen“, sagt Schulleiterin Alma Tamborini. Andere kauften sich für kleines Geld noch Schulsachen. Und wieder andere Kinder seien nachts noch so lange auf der Straße unterwegs, dass sie einfach länger schliefen.

Kinder bleiben Fünf Jahre in der Schule

Bevor es also an der Grundschule im Dortmunder Norden mit dem Lesen und Rechnen losgeht, muss erst die Grundversorgung stimmen. Die rund 435 Kinder kommen aus 33 verschiedenen Nationen, nur drei von ihnen haben keinen Migrationshintergrund. Über 90 Prozent sprechen ihrem Alter entsprechend nicht angemessen Deutsch.

Das sind Gründe, warum die Schülerinnen und Schüler hier seit über zwei Jahren automatisch fünf Jahre unterrichtet werden, bevor sie auf die weiterführende Schule kommen. Denn nur sieben Prozent schafften derzeit nach zwei Jahren die Versetzung in die dritte Klasse, sagt Tamborini. Vor rund zehn Jahren seien es noch etwa 70 Prozent gewesen. Damit ist die Schule kein Einzelfall. Immer mehr Grundschüler in Nordrhein-Westfalen haben gravierende Lernlücken.

Schulen in NRW: Immer mehr Kinder bleiben länger in der Schuleingangsphase

Laut der kürzlich vorgestellten internationalen „IGLU-Studie“ können in Deutschland viele Kinder nach vier Jahren Grundschule kaum lesen. Vor einem halben Jahr kam die „IQB-Studie“ zum Ergebnis, dass etwa jedes dritte Grundschulkind in NRW nicht richtig lesen, schreiben und rechnen könne. „Immer mehr Kinder brauchen immer mehr Zeit, um die wichtigen Grundlagen für erfolgreiches Lernen zu erwerben“, sagt Christiane Mika, Vorsitzende des Grundschulverbands NRW. Dadurch blieben viele Kinder noch ein Jahr länger in der Schuleingangsphase.

Das gilt vor allem für Kinder, „die auf Grund schwieriger Aufwachsbedingungen mehr Begleitung und Unterstützung benötigen“, so Mika. Genaue Zahlen dazu, wie viele Kinder die zweijährige Schuleingangsphase nicht schaffen, liegen dem Land nicht vor, da es nach der ersten Klasse keine „formale“ Versetzung in die zweite Klasse gebe, heißt es vom Statistischen Landesamt. Laut Schulministerium könne in begründeten Einzelfällen jedoch entschieden werden, dass ein Kind ein weiteres Jahr in der Schuleingangsphase verbleibt.

„Der Unterricht gibt den Kindern Routine“

Für viele Kinder sei das notwendig, sagt Christiane Mika. Das müsse aber in sinnvollen pädagogischen Konzepten umgesetzt werden, wie etwa dem jahrgangsübergreifenden Unterricht, damit eine Wiederholung nicht als Sitzenbleiben empfunden werde. Mika: „Durch Fünf-Jahres-Modelle, wie es sie etwa an der Nordmarktgrundschule gibt, werden neue Modelle entwickelt, die sich an den speziellen Bedarfen der Kinder orientieren.“

Alma Tamborini, Leiterin der Dortmunder Nordmarktgrundschule, findet: „Es darf keine Beziehungsabbrüche etwa durchs Sitzenbleiben geben.“
Alma Tamborini, Leiterin der Dortmunder Nordmarktgrundschule, findet: „Es darf keine Beziehungsabbrüche etwa durchs Sitzenbleiben geben.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Auch Schulleiterin Tamborini findet: „Es darf keine Beziehungsabbrüche etwa durchs Sitzenbleiben geben.“ Deshalb bleiben an der Nordmarktgrundschule auch die Kinder in der Klasse, die schon nach dem vierten Schuljahr auf die weiterführende Schule wechseln. Wie wichtig hier Beziehungen sind, wird schon während der ersten Schulstunde deutlich. Immer wieder suchen die Kinder die Nähe zu ihrer Lehrerin, nehmen sich im Unterricht gegenseitig dran oder merken an, wenn ein Klassenkamerad fehlt.

Keine Lust auf Schule scheint hier niemand zu haben. Im Gegenteil: Während der Mathestunde bleiben alle ruhig auf ihren Plätzen sitzen, zeigen auf, bevor sie sprechen und machen jede Übung mit. „Der Unterricht gibt den Kindern Routine“, sagt Tamborini. Eine Struktur, die viele zuhause nicht haben.

„Für einige ist das Mittagessen die letzte Mahlzeit am Tag“

Als eine von vier gebunden Ganztagsgrundschulen in NRW machen alle hier Kinder ihre Hausaufgaben und bekommen ein warmes Mittagessen. „Für einige ist das die letzte Mahlzeit am Tag.“ Zudem kämen einige Kinder nur unregelmäßig zur Schule, weil sie morgens etwa auf ihre Geschwister aufpassen müssten. „Schulversäumnis-Zettel interessieren einige Eltern nicht“, sagt Tamborini.

Oft müssten Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter das Kind zuhause abholen. Um in Austausch mit den Eltern zu kommen, steht die Schulsozialarbeit jeden Morgen mit Kaffee vor dem Tor. „Der Schritt hierein ist für viele zu schwer.“ Angebote wie diese nehmen viele Eltern gerne an, sagt Tamborini, „wir erfahren viel Dankbarkeit“.

Schulministerin Feller will „verbindliche Lesezeit“ einführen

Damit verschieben sich an der Schule oftmals die Prioritäten, „wir können morgens nicht einfach das Deutschbuch aufschlagen und das Kind bitten, vorzulesen“, sagt Tamborini. Mit solch einem Vorschlag reagierte kürzlich NRW-Schulministerin Dorothee Feller auf die Befunde der IGLU“- und der „IQB-Studie“. Sie kündigte an, in Grundschulen zum kommenden Schuljahr „dreimal 20 Minuten verbindliche Lesezeit pro Woche“ einzuführen.

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Zudem sollen Grundschullehrkräfte verbindliches Unterrichtsmaterial für Deutsch und Mathe erhalten. Die Vorgaben der Ministerin sind Schulleiterin Tamborini „noch zu pauschal“. Vielmehr müsse gezielt geschaut werden, in welchem Viertel die Schule liegt und was vor Ort gebraucht wird. Im Falle der Nordmarktgrundschule seien das vor allem mehr Alltagshelfer, um die Lehrkräfte zu entlasten.

Grundschule entwickelt zusätzliche Unterrichtsmaterialien

Viele Probleme nimmt die Schulleiterin mit ihrem Team schon selbst in die Hand. Sie entwickelten zusätzliche Unterrichtsmaterialien– zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Kinder. So illustrierte ein Sonderpädagoge zum Beispiel ein Deutschbuch selbst.

Darin toben Kinder mit verschiedenen Hautfarben auf dem Spielplatz am Nordmarkt. So, wie es Schülerin Yasmina und ihre Freunde gleich nach der Schule vorhaben.

Grundschule mit dem höchsten Sozialindex

Der Sozialindex teilt Schulen in NRW nach Belastungsfaktoren in eine Indexstufe. Bei der Nordmarktgrundschule gibt es den Sozialindex 9, das ist die höchste Belastungsstufe. In NRW gibt es nur noch drei weitere Grundschulen in Duisburg mit diesem Sozialindex. Dieser wird (auf einer Skala von 1 bis 9) aus dem Anteil der Schüler mit nicht-deutscher Familiensprache, mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Lernen, Sprache oder emotionaler und sozialer Entwicklung errechnet.