Essen. Kriminologe Tobias Singelnstein legt große Untersuchung zu Polizeigewalt vor und fordert mehr Schulung, um kritische Situationen zu entschärfen.

Die tödlichen Schüsse aus einer Polizeiwaffe auf einen 16-jährigen Flüchtling in Dortmund im August 2022 waren sicherlich ein außergewöhnlich spektakulärer Fall, in dem ein Polizeieinsatz in einer Katastrophe endete. Doch immer wieder berichten Medien über Einsätze, die aus dem Ruder liefen: Prügel mit dem Schlagstock, Kopfverletzung in der Polizeiwache, Schläge bei Demonstration lauteten einige Nachrichten der vergangenen Wochen. Selten werden wie im Dortmunder Fall Beamte zur Verantwortung gezogen oder gar verurteilt.

2018 startete der Kriminologe Tobias Singelnstein an der Ruhr-Uni Bochum ein umfangreiches Forschungsprojekt zur Polizeigewalt: „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt:innen“, kurz Kviapol. Jetzt legt Singelnstein, der 2022 an die Uni Frankfurt wechselte, mit seinem Forschungsteam die Ergebnisse des Projekts in dem knapp 500-seitigen Buch „Gewalt im Amt – Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung“ vor und schließt damit eine Forschungslücke. Christopher Onkelbach sprach mit dem Kriminologen.

Was sind die zentralen Ergebnisse der Studie?

Tobias Singelnstein: Neu an unserer Studie ist, dass wir uns dem Thema übermäßiger polizeilicher Gewalt aus der Betroffenenperspektive genähert haben. Dazu hat unser Team knapp 3400 Personen befragt und mehr als 60 Interviews mit Polizeibeamten, Staatsanwälten, Richtern, Anwälten und Beratungsstellen geführt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der juristischen Aufarbeitung der Fälle. Durch die zahlreichen Fallschilderungen konnten wir Rückschlüsse darauf ziehen, wann, wo und wie es zu übermäßiger Polizeigewalt kommt.

Wieso laufen manche Einsätze aus dem Ruder?

Meist sind es komplexe soziale Interaktionen, und es ist im Nachhinein oft gar nicht so leicht zu sagen, wo die Grenze zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Gewalteinsatz verläuft. Viele Fälle liegen in einem Zwischenbereich, werden von den Beteiligten unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Betroffene nehmen das Verhalten der Beamten dann oft schnell als rechtswidrig wahr und problematisieren es.

Und wie ist die Sichtweise der Polizei?

Bei der Polizei ist die Schwelle sehr hoch, einen problematischen Gewalteinsatz auch als rechtswidrig einzustufen. Die Polizei ist zwar für den Gewalteinsatz geschult, doch auch für die Beamten ist es häufig eine sehr emotionale Situation. Stress und Zeitdruck können weitere Faktoren sein, wie Polizeibeamte uns in Interviews berichteten. Schließlich kann auch Angst vor Kontrollverlust zu einer Eskalation beitragen: Die Polizei ist darauf trainiert, Situationen zu dominieren. Und Gewalt ist dafür ein Mittel.

Prof. Tobias Singelnstein
legt mit seinem Team erstmals eine umfangreiche Untersuchung zu polizeilicher Gewalt aus Betroffenenperspektive vor. Der Kriminologe begann die Studie 2018 an der Ruhr-Uni Bochum und forscht nun an der Uni Frankfurt.
Prof. Tobias Singelnstein
legt mit seinem Team erstmals eine umfangreiche Untersuchung zu polizeilicher Gewalt aus Betroffenenperspektive vor. Der Kriminologe begann die Studie 2018 an der Ruhr-Uni Bochum und forscht nun an der Uni Frankfurt. © RUB | Katja Marquard

Von welchen Formen der Gewalt reden wir?

Nach Angaben der Befragten waren Schläge und Stöße die häufigsten Gewaltformen. Bei Großveranstaltungen spielten Reizgas und Wasserwerfer ebenfalls eine erhebliche Rolle. 19 Prozent berichten von schweren Verletzungen, etwa an Gelenken, Sinnesorganen oder sogar von Knochenbrüchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen schwere Verletzungen erlitten, war in Fällen mit Würgen sowie Fesselungen oder Fixierungen am höchsten.

Welche Folgen hat dies für Betroffene?

Je schwerer die Verletzungen waren, desto schwerer waren auch die psychischen Folgen für die Betroffenen. Thematisiert wurden insbesondere Vertrauensverlust in Polizei und Staat, Ohnmachtsgefühle und Vermeidungsverhalten.

Wie oft kommt es zu übermäßiger Gewaltanwendung im Amt?

Nach der Statistik der Staatsanwaltschaft wurden im Jahr 2021 knapp 2800 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte und -beamtinnen wegen rechtswidriger Gewaltausübung erledigt. Das ist das sogenannte Hellfeld. Doch es gibt nach unseren Erkenntnissen ein sehr großes Dunkelfeld in diesem Deliktbereich. Bei der Befragung der Betroffenen gaben nur 14 Prozent an, dass es in ihrem Fall ein Strafverfahren gegeben habe. Die übrigen 86 Prozent verbleiben im Dunkelfeld. Das zeigt, dass wir von einem Vielfachen der bekannten Verdachtsfälle ausgehen müssen.

Wieso erstatten die Betroffenen so selten Anzeige?

Nur etwa neun Prozent der befragten Betroffenen waren bereit, Anzeige zu erstatten. Viele denken, dass sie in solchen Verfahren nicht zu ihrem Recht kommen würden und dass ihnen nicht geglaubt wird. Die Beweislage in diesen Verfahren ist zudem häufig kompliziert und widersprüchlich. So können die tatverdächtigen Beamten oder Beamtinnen oft nicht identifiziert werden. Das ist für Betroffene ein wesentlicher Grund, keine Strafanzeige zu erstatten.

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Reagieren die Beamten nicht häufig nur auf eine Bedrohung in einer brenzligen Situation?

Es ist nicht immer so, dass sie auf eine konkrete Bedrohung reagieren. Es gibt Fälle, wo es keinerlei Anlass für Gewalt gibt. Zum Beispiel der anlasslose Faustschlag ins Gesicht eines Demonstranten, davon gibt es ein Video. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendungen wurden in unserer Befragung besonders häufig im Zusammenhang mit Demonstrationen berichtet, das sagten 55 Prozent der Befragten. 25 Prozent nannten Fußballspiele als Konfliktort. Oft tragen viele Faktoren und Beteiligte zu einer Eskalation bei. Manchmal genügt die Frage nach einem Dienstausweis oder dem Namen des Beamten, dass eine Situation aus dem Ruder läuft. Zuweilen können auch Provokationen oder als respektlos wahrgenommenes Verhalten zu Gewalt führen. Insgesamt spielt misslungene Kommunikation eine wichtige Rolle.

Wie in dem Fall des erschossenen 16-Jährigen in Dortmund?

Ja, es ist die Frage, ob es gelingt, eine angespannte Situation durch Kommunikation zu entschärfen. Mouhamed Dramé saß in Suizidabsicht mit einem Messer vor dem Bauch in einem Innenhof. Das war eine statische Situation, die man hätte statisch halten können. Der Einsatz von Pfefferspray hat offenbar dazu geführt, dass man aus der Eskalationsspirale dann nicht mehr herauskam. Mit Sprechen, Beruhigen und professioneller psychologischer Unterstützung wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen.

Wie geht die Polizei intern mit solchen Vorfällen um?

Neben Nachbesprechungen spielt das polizeiliche Berichtswesen eine zentrale Rolle. Bei gewaltsamen Einsätzen sind die Beamtinnen und Beamten, die diese Berichte schreiben, allerdings nicht ganz unvoreingenommen, da sie selbst Beteiligte der Situation waren. Es gibt bemüht sachliche Darstellungen aber auch bewusste Verfälschungen von Sachverhalten. Dazwischen liegt ein großer Graubereich. Solche Berichte sind eine Möglichkeit, das eigene Handeln zu legitimieren. Im Polizeijargon wird das als „Geradeschreiben“ bezeichnet. Solche mitunter verfärbten Berichte haben in einem möglicherweise folgenden Strafverfahren oft erhebliches Gewicht.

Wie reagiert die Justiz auf Strafanzeigen?

Die Erfolgsquote ist sehr gering. Über 90 Prozent der Verfahren werden eingestellt, nur in zwei Prozent der Fälle wird Anklage erhoben. Oft können die Beschuldigten nicht identifiziert werden oder die Beweislage ist aus anderen Gründen problematisch. Häufig steht es Aussage gegen Aussage. Polizeibeamte sind diese Situation gewohnt, sie treten als professionelle Zeugen auf und gelten als besonders glaubwürdig. Und für die Justiz sind Polizeibeamte keine „normalen“ Beschuldigten, es gibt hier ein institutionelles Näheverhältnis, man arbeitet ja Tag für Tag zusammen.

Wie könnte eine sinnvolle Prävention aussehen?

Die Polizei darf unter engen Voraussetzungen unmittelbaren Zwang anwenden, um polizeiliche Maßnahmen durchzusetzen. Gewalt gehört für die Beamten insofern zum Berufsalltag. Doch es ist eine Ausnahmebefugnis. Und auch rechtmäßige polizeiliche Gewalt ist für Betroffene in der Regel eine drastische Erfahrung. Deshalb muss die Polizei einer Normalisierung der Gewalt entgegenwirken und alles versuchen, konfliktträchtige Situationen anders zu lösen. Zu diesem Zweck könnte in der polizeilichen Ausbildung mehr Gewicht auf Kommunikation und Deeskalation gelegt werden.