Bochum. . Eine Studie der Ruhr-Uni Bochum untersucht rechtswidrige Polizeigewalt aus der Sicht der Opfer. Jährlich wird in 2200 Verfahren ermittelt.
Jährlich wird in über 2200 Verfahren wegen rechtswidriger Polizeigewalt gegen Beamte ermittelt. Doch nur die allerwenigsten Fälle münden tatsächlich in einer Anklage. Der Bochumer Kriminologe Tobias Singelnstein vermutet, dass die Dunkelziffer erheblich sein dürfte und startete eine Studie, die Polizeigewalt erstmals aus Opfersicht erforscht. Seit rund zwei Wochen können Betroffene anonym an einer Online-Befragung teilnehmen. Das Echo darauf sei enorm, sagt Prof. Singelnstein. Christopher Onkelbach sprach mit dem Kriminologen der Ruhr-Uni Bochum über Hintergründe und Ziele der Studie.
Wann ist Polizeigewalt rechtswidrig?
Singelnstein: Polizei darf Gewalt einsetzen, wenn polizeiliche Maßnahmen durchgesetzt werden müssen, die ohne Anwendung von Zwang nicht durchgesetzt werden können. Doch es gilt das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Wann eskalieren solche Situationen?
Es gibt Einsatzszenarien, in denen die Polizei ganz besonders auf Eigensicherung bedacht ist und es eine größere Wahrscheinlichkeit gibt, dass die Lage eskaliert. Manche Einsatzgeschehen schaukeln sich leichter hoch, etwa wenn es um Clan-Kriminalität geht. Dann wird zuweilen anders reagiert als bei einer Routinekontrolle.
Mit welchen Konsequenzen müssen Beamte rechnen?
Meist mit keinen. Etwa 90 Prozent der Ermittlungsverfahren werden eingestellt. Nach Zahlen der Staatsanwaltschaften gibt es in Deutschland pro Jahr 2100 bis 2500 Verfahren gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger Gewalt. Zur Anklage kommen aber nur zwei bis drei Prozent. Das erscheint uns als eklatantes Missverhältnis, denn die durchschnittliche Anklagequote für andere Delikte liegt bei etwa 19 Prozent.
Nun sind die Beamten durch die Politik aufgefordert, null Toleranz zu zeigen. Hat das Folgen?
Ich halte es jedenfalls für ein problematisches Signal. Hinzu kommt, dass die Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt eben nur höchst selten zu einer Verurteilung führen. Die Polizisten können sich in dieser Situation also relativ sicher fühlen. Zudem sagen Polizisten fast nie gegeneinander aus.
Schrecken daher viele Betroffene vor einer Anzeige zurück?
Wir gehen davon aus, dass viele Opfer rechtswidriger Polizeigewalt auf eine Anzeige verzichten, weil die Erwartung besteht, dass sowieso nichts passiert.
Zuletzt wurde oft davon gesprochen, dass Beamte häufiger Opfer von Angriffen werden, stimmt das nicht?
Respektlosigkeit und Beleidigungen sind häufiger geworden, davon würde auch ich ausgehen. Aber es ist sehr umstritten und empirisch nicht hinreichend belegt, ob und wie sehr die Gewalt gegen Beamte zugenommen hat. Schwere Vorfälle von Gewalt gegen Polizeibeamte sind eher nicht mehr geworden. Es gibt aber nicht erst seit dem G20-Gipfel in Hamburg eine Debatte über das Thema Körperverletzung im Amt. Die Sensibilität für das Thema ist größer geworden.
Was ist neu an Ihrer Studie?
Wir untersuchen in unserer Studie erstmals die Opferperspektive und wollen herausfinden, welche Personen in welchen Situationen Opfer von rechtswidriger Gewalt durch Polizeibeamte wurden und ob sie Anzeige erstatten oder nicht. Wir vermuten, dass Fälle von rechtswidriger Polizeigewalt häufiger sind, als die Statistik vermuten lässt. Wir wollen das Dunkelfeld aufhellen. Deshalb befragen wir Betroffene. Ziel ist es auch herauszufinden, ob bestimmte Gruppen ein höheres Risiko tragen, Opfer von Polizeigewalt zu werden.
Seit etwa 14 Tagen können sich Betroffene in einer Online-Befragung an ihrer Studie beteiligen. Wie ist die Resonanz?
Die Studie ist sehr gut gestartet, das Echo ist jetzt schon größer, als wir erwartet haben. Damit können wir wissenschaftlich gut arbeiten. Viele Betroffene erleben es offenbar als ungerecht, nicht gehört zu werden und wollen ihre Erfahrungen schildern.
Brauchen wir eine unabhängige Beschwerdestelle, an die sich Bürger wenden können?
Das wäre gut. Nach dem Vorbild eines Datenschutzbeauftragten des Landes könnte eine solche Einrichtung eine Anlaufstelle für Bürger sein, und zugleich als unabhängige Institution einen kritischen Blick auf die Polizeiarbeit werfen und regelmäßig die Öffentlichkeit informieren.