Düsseldorf. Der Entwurf eines Zwischenberichtes zu den Missbrauchsfällen von „Lügde“ macht Behördenversagen deutlich. Kritik am Datenschutz.

Seit 2019 beleuchtet ein Untersuchungsausschuss des Landtags Behördenversagen im Fall des vielfachen sexuellen Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz in Lügde. Die Hauptangeklagten sind längst verurteilt, aber beim Kinderschutz stehen wesentliche Verbesserungen noch aus.

Das Martyrium der Kinder

Der am Freitag vorgelegte Entwurf eines Zwischenberichts ist nach Ansicht des Ausschuss-Vorsitzenden Martin Börschel (SPD) eine unmissverständliche Aufforderung an die Landespolitik, die Erkenntnisse „nicht folgenlos versanden zu lassen“. Zahlreiche Zeugen wurden vorgeladen und Experten für Kinderschutz angehört. Die Informationen ließen einen umfänglichen Blick darauf zu, „welches Martyrium die Kinder erlebt haben, unter den Augen und teilweise sogar in der Obhut des Staates“.

Der Ausschuss hat sich intensiv mit drei Opfer-Biografien beschäftigt, stellvertretend für viele andere. Dabei wird auf bestürzende Weise das Versagen von Jugendämtern und Polizeibehörden sichtbar, verursacht in erster Linie dadurch, dass Zuständigkeiten unklar blieben und Verdachtsmomenten nicht nachgegangen wurde. Da hielten Polizisten sich erst einmal raus, Experten aus Jugendämtern blieben inaktiv, Alarmsignale nach der Fallübergabe an neue Mitarbeiter unbeachtet. „Wenn alle beteiligten Behörden-Mitarbeiter an einem Tag zusammengesessen hätten, dann hätte das Leid verhindert werden können“, mahnte Börschel.

Komplizierte politische Beratungen

Auf welche Handlungsempfehlungen sich die Politik einigen kann, ist noch offen. Der Landtag soll sich Ende März abschließend mit dem Zwischenbericht beschäftigen. Vorgeschaltet muss der U-Ausschuss mit Zwei-Drittel-Mehrheiten klären, welche Beweise berücksichtigt werden.  Nach der Landtagswahl im Mai müssen alle Parteien einem neuen Untersuchungsausschuss zustimmen, damit aus dem Zwischen- ein Abschlussbericht werden kann.

U-Ausschuss-Vorsitzender Börschel gab am Freitag aus persönlicher Sicht erste Handlungsempfehlungen. „Ich halte den Datenschutz für ein veritables Problem“, sagte er. Wenn „falsch verstandener Datenschutz“ am Ende dazu führe, dass der Kinderschutz nach hinten rücke, dann laufe etwas falsch. Er forderte auch die Einführung einer Fachaufsicht für Jugendämter. Die beiden bei den Landschaftsverbänden angesiedelten Landesjugendämter sollten dafür weiterentwickelt werden. Bisher gleiche die Organisation der Jugendämter einem „Sammelsurium“.

Korrektur bei der Polizei-Organisation auf dem Land nötig?

Schließlich zielt Börschel auf die Polizei-Organisation. Zwar habe man in Lippe und Höxter keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass „alleine der Umstand, dass Landräte Polizeichefs sind, das Problem schlimmer gemacht haben. Trotzdem bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Landräte keine Polizeichefs mehr sein sollten.“ 

Wenn im Amt der Blick fürs Wesentliche fehlt

Mühsam gestaltete sich die Arbeit des „Untersuchungsausschusses IV (Kindesmissbrauch)“ in den vergangenen zwei Jahren. Da gab es Behörden, die erkennbar wenig Interesse daran hatten, zur Aufklärung der vielfachen Vergewaltigung von Kindern beizutragen. Zeugen mussten gerichtlich zur Aussage gezwungen werden, Dokumente ließen auf sich warten. Nach 72 Sitzungen und der Anhörung von 120 Zeuginnen und Zeugen liegt der Entwurf für einen Zwischenbericht des Ausschusses vor. Die Zeit hat nicht gereicht, um die Arbeit des Ausschusses vor der Landtagswahl abzuschließen.

Der nächste Landtag wird also einen neuen U-Ausschuss bestimmen müssen. Ordentlich gearbeitet wurde aber schon in der laufenden Legislaturperiode. Die Erkenntnisse, die der Ausschuss zusammengetragen hat, öffnen den Blick in einen Abgrund. Immer wieder wurden Beschäftigte in Jugendämtern oder in Polizeiwachen mit Aussagen zu möglichem Kindesmissbrauch konfrontiert. Oft gab es keine echte Reaktion, oft nur halbherzige, manchmal wurde der Tippgeber sogar ermahnt, den Mund zu halten.

"Da stand kein Schild: Ich habe Sex mit Kindern"

Zu den besonders Besorgnis erregenden Ergebnissen des Ausschusses gehört, dass viele von denen, die sich professionell mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen beschäftigen, nie persönlich Kontakt zu den betroffenen Kindern hatten. Verstörend waren Zeugenaussagen wie diese eines Sozialpädagogen, der den Hauptangeklagten kannte, aber keine Alarmsignale wahrgenommen haben wollte: „Da stand kein Schild an der Tür: Ich habe Sex mit Kindern“.

Nicht böse Absicht sei ursächlich für das Versagen der Ämter, betont Martin Börschel (SPD), Vorsitzender des U-Ausschusses Kindesmissbrauch. Vielmehr gehe es um „persönliche und strukturelle Überforderungen“. Gerade die Fallübergaben und die Dokumentationen seien vielfach „katastrophal“ verlaufen. Täter seien erfahren darin, solche Schwachstellen auszunutzen. „Sie wechseln ihren Wohnsitz oder den Arzt, wenn es für sie brenzlig wird“, so Börschel. „Wenn es da keinen guten Austausch von Informationen gibt, hat der Täter die Nase vorn.“

Fehlende Wertschätzung für Jugendamts-Mitarbeiter?

Wenn sich jedes Jahr eine neue Fachkraft um eine Familie kümmere, gingen viele Informationen verloren, meint Börschel. Jugendamts-Mitarbeiter machten ihren Beruf aus Leidenschaft, würden aber zermürbt durch Personalmangel, unklare Regeln, schlechte Bezahlung und insgesamt „fehlende Wertschätzung“.

Unter dem Eindruck der Verbrechen von Lügde hat NRW als erstes Bundesland eine Landesfachstelle gegen sexualisierte Gewalt eingerichtet. Ein Kinderschutzgesetz steht vor der Verabschiedung.