Düsseldorf. Schon an Silvester wusste das BKA, dass in NRW ein Anschlag verübt werden könnte. Die NRW-Regierung erfuhr davon aber erst Tage später.

Im Fall der beiden iranischen Brüder aus Castrop-Rauxel, die im Verdacht stehen, einen islamistisch motivierten Giftanschlag geplant zu haben, gibt es neue, brisante Erkenntnisse. Die NRW-Behörden wussten schon früher als bisher bekannt, dass die Terror-Spur nach NRW führte, informierten aber erst Tage später die Landesregierung.

Ende Dezember war klar: NRW ist ein möglicher Tatort

Wie das Bundeskriminalamt (BKA) dieser Redaktion auf Anfrage bestätigte, wurden die NRW-Sicherheitsbehörden schon am 31. Dezember und nicht erst am 7. Januar darüber informiert, „dass eine mögliche Tatörtlichkeit in NRW liegen könnte“. Die konkrete Adresse eines Verdächtigen in Castrop-Rauxel wurde aber laut BKA erst am 6. Januar bekannt. Bereits am Abend des 30. Dezember 2022 hatte das BKA alle Landeskriminalämter über einen möglichen Giftanschlag in der Silvesternacht in Deutschland in Kenntnis gesetzt.

Regierung erfährt erst am 7. Januar von der Gefahr

Nun stellt sich die Frage, wie das Landeskriminalamt mit diesen brisanten Informationen zum Jahreswechsel und in den ersten Januartagen umgegangen ist. Gab es erste Vorsichtsmaßnahmen, um der Gefahr zu begegnen? Ungewöhnlich scheint in diesem Zusammenhang, dass Innenminister Herbert Reul (CDU) und Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) erst am 7. Januar über die Terrorgefahr in Kenntnis gesetzt wurden. Berichte der beiden Minister bestätigen dies. Üblicherweise erreichen Regierungsmitglieder sehr schnell Meldungen über "wichtige Ereignisse" (WE-Meldungen).

Das Bundeskriminalamt beschrieb die Chronologie der Ereignisse gegenüber dieser Redaktion so:

"Den Hinweis auf die Gefahr eines möglichen Anschlags erhielt das BKA am 30. Dezember 2022 um 23.10 Uhr. Sofort starteten die Ermittlungen, die am 31. Dezember 2022, 10:30 Uhr, unter anderem ergaben, dass eine mögliche Tatörtlichkeit im Bundesland NRW liegen könnte."

Mit den zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Informationen war es aber laut BKA noch nicht möglich, herauszufinden, wer die Anschlagspläne schmiedete und wo diese Person wohnt.

Am Mittag des 31. Dezember 2022 gab das BKA die Erkenntnis, dass in NRW ein Anschlag drohe, "in gewohnter Bund-Länder-Zusammenarbeit unter anderen an die Sicherheitsbehörden in NRW weiter".

Konkrete Adresse eines Verdächtigen ab dem 6. Januar bekannt

Am 6. Januar 2023 erhielt das BKA einen weiteren Hinweis mit einer konkreten IP-Adresse. Die Identifizierung sei in diesem Fall gelungen, weil der betreffende Telekommunikationsanbieter seine Daten für sieben Tage auf freiwilliger Basis gespeichert hatte. Die Erkenntnisse wurden unmittelbar an die zuständigen Behörden in NRW weitergegeben, heißt es.

Mehr als eine Woche lang erfuhren NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) und NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) offenbar nicht, dass das Landeskriminalamt (LKA) schon seit Ende Dezember von einem möglichen Gift-Anschlag in NRW wusste.

Dem Vernehmen nach soll sich Reul am Donnerstag im nichtöffentlichen Teil der Sitzung des Innenausschusses über diese späte Info geärgert haben. Im Licht der neuen Erkenntnisse muss sich die Landesregierung jetzt auf kritische Fragen gefasst machen, ob die Gefahr in NRW womöglich unterschätzt wurde und ob die Kommunikationswege zwischen den Behörden in Sicherheitsfragen gut funktionieren.

BKA weist auf offene Frage bei der Vorratsdatenspeicherung hin

Aus der Sicht des Bundeskriminalamtes ist der Fall ein Beispiel dafür, dass dringend eine einheitliche Regelung hinsichtlich der Mindestspeicherung von Telekommunikationsdaten getroffen werden müsse, da es auch hätte sein können, dass bei einem anderen Telekommunikationsanbieter die IP-Adresse bereits gelöscht gewesen wäre.

SPD-Opposition verlangt Antworten auf neue Fragen

Nach Ansicht von Christina Kampmann, innenpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, stellen sich nach den neuen brisanten Erkenntnissen viele weitere Fragen: "Warum hat die Landesregierung dem schriftlichen Bericht für den Innenausschuss zufolge offenbar nichts veranlasst, nachdem das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt über den Sachverhalt informiert worden ist? Wie kann es sein, dass der Innenminister angesichts eines solchen Bedrohungsszenarios von den eigenen Behörden erst eine Woche später informiert wird? Und warum hat Minister Reul diese Informationen bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten? Sie hat schließlich ein Recht darauf zu erfahren, wer was wann wusste."

Sie kündigte an, die SPD werde es der Landesregierung "auch nicht mehr durchgehen lassen, sich hinter der Fassade von nicht-öffentlichen Sitzungen zu verschanzen, wie es sowohl Justizminister Limbach als auch Innenminister Reul in dieser Woche getan haben." Auf diese Weise sollten wohl "Nebelkerzen" gezündet werden, um den Blick auf die Faktenlage zu erschweren. "Die Flucht in eine nicht-öffentliche Sitzung scheint alleine dem Schutz der Minister gedient zu haben.“

Innenministerium lobt die Zusammenarbeit zwischen den Behörden

Laut dem NRW-Innenministerium habe in diesem Fall die Zusammenarbeit der Sicherheits- und Justizbehörden des Bundes und des Landes bei der Terrorbekämpfung funktioniert. Womöglich sei ein Anschlag „durch professionelles, unverzügliches und entschlossenes Handeln aller beteiligter Behörden“ verhindert worden.

Aus Sicherheitskreisen wurde am Freitag kommuniziert, dass die "abstrakte Information" am 31. Dezember über Terror in NRW überhaupt keine Ermittlungsansätze geliefert hätte. Nach Informationen dieser Zeitung sollen die NRW-Minister für Inneres und für Justiz in ihren Berichten an die Landtags-Ausschüsse nichts von den Erkenntnissen zum 31. Dezember geschrieben haben, weil diese angeblich vom Verfassungsschutz als "geheime Verschluss-Sache" eingeordnet worden sein sollen.

Weitere noch offene Fragen

Im Fall der verdächtigen Brüder aus Castrop-Rauxel gibt es weitere Ungereimtheiten: Bei einer zweiten Durchsuchung der Wohnung eines der Brüder am 12. Januar wurden Beweise sichergestellt, die bei der ersten Suche drei Tage zuvor nicht gefunden worden waren. Unter den Beweisen sollen Stoffe zur Giftherstellung sein. Eine chemische Analyse läuft. Wie kann es sein, dass bei einer Durchsuchung solche Beweise zunächst übersehen wurden?

Warum durfte sich ein Verurteilter wieder früh frei bewegen?

Schließlich fragt die Opposition im Landtag, warum der Bruder des 32-jährigen Hauptverdächtigen, ein 25-Jähriger, schon recht früh nach einer Verurteilung wegen versuchten Mordes in den Maßregelvollzug kam und die Gelegenheit zu vielen begleiteten und unbegleiteten Ausgängen und zum Nutzen eines Mobiltelefons hatte. Er durfte mehrmals bei seinem Bruder übernachten.

Der Verdacht gegen die mutmaßlichen Terroristen hat sich unterdessen weiter erhärtet. Gegen den 32 Jahre alten Verdächtigen wurde ein neuer Haftbefehl verkündet, der nun auch die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat umfasst, erklärte die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf am Freitag. Bei dem 25-jährigen Bruder sei ein solcher Haftbefehl beantragt worden.