Düsseldorf. Warum durfte sich ein zu sieben Jahren Haft Verurteilter so früh wieder frei bewegen? Die Landespolitik sucht Antworten.
Der Terror-Verdacht gegen zwei Brüder aus Castrop-Rauxel, die einen islamistisch motivierten Giftanschlag in der Silvesternacht oder in den Tagen danach geplant haben sollen, schlägt landespolitisch weiter Wellen.
Besonders die Tatsache, dass sich einer der Brüder – ein 25-jähriger Iraner – nach einer Verurteilung wegen versuchten Mordes schon recht früh als Maßregelvollzugspatient wieder frei bewegen konnte, irritiert viele Beobachter und wirft Fragen auf zu den Lockerungen im Maßregelvollzug.
"64-er" belegen immer mehr Behandlungsplätze im Maßregelvollzug
Der 25-Jährige gehört zu den so genannten „64-er Patienten“, wie das NRW-Gesundheitsministerium auf Nachfrage dieser Redaktion bestätigte. Das sind Straftäter, die nach dem Paragraf 64 des Strafgesetzbuches neben einer Haft zu einer Therapie im Maßregelvollzug verurteilt werden, weil ihre Tat verbunden ist mit einem „Hang“ zu Drogen- oder Alkoholkonsum.
Die Landschaftsverbände in NRW kritisieren, dass viele dieser Patienten im Maßregelvollzug eigentlich nichts zu suchen hätten. Der Paragraf 64 wird sogar als „Aldi-Paragraf“ verspottet, weil ein Täter damit angeblich „billig“ davonkommt.
Allein im Maßregelvollzug des LWL hat sich die Zahl solcher Zuweisungen seit 2009 fast verdoppelt - von 154 im Jahr 2009 auf 303 Patienten im Jahr 2021. Die Kapazitäten der Kliniken müssen daher ständig erweitert werden. Die Bundesregierung will das Sanktionsrecht im Maßregelvollzug ändern. Das Ziel: Klinikplätze nur für Täter, „die wirklich eine Therapie brauchen“.
Schon nach eineinhalb Jahren endete die Strafhaft
Der 25-jährige Iraner hatte 2018 in Dortmund einen Ast auf eine Autobahn geworfen und dabei einen schweren Unfall verursacht. Ein Gericht verurteilte ihn 2019 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Zudem wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach einem Jahr und sechs Monaten Haft kam der Mann in den Maßregelvollzug, zunächst in die Forensische Psychiatrie Marsberg, dann in Kliniken in Hemer und Hagen.
„Regelkonform“ soll er sich dort verhalten haben. Ab Frühjahr 2021 erhielt er die Möglichkeit zu begleiteten, später zu unbegleiteten Ausgängen. 172 Ausgänge sollen es nach Informationen dieser Zeitung gewesen sei. Der Mann durfte auch wiederholt bei seinem Bruder übernachten, mit dem er wohl den Terroranschlag plante.
Rechtsausschuss beschäftigt sich am Mittwoch erneut mit dem Fall
Am heutigen Mittwoch beschäftigt sich der Rechtsausschuss des Landtags erneut mit dem Fall Castrop-Rauxel. Der Umgang mit „64-er Patienten“ dürfte dann zur Sprache kommen. "Warum ein wegen versuchten Mordes verurteilter Straftäter so häufig Freigang hatte, wirft natürlich viele Fragen auf. Da ist auch Justizminister Limbach in der Pflicht, Antworten zu liefern. Er kann nicht so tun, als ginge ihn der Maßregelvollzug nichts an“, sagte SPD-Rechtsexperte Hartmut Ganzke dieser Redaktion. Der Fall zeige, „dass wir uns das bestehende System sehr genau anschauen und überdenken müssen".
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) hatte dem Ausschuss am Montag einen Bericht über den Stand der Ermittlungen in Castrop-Rauxel vorgelegt.