Düsseldorf. “Wir müssen aufpassen, dass uns das Vertrauen der Menschen nicht verloren geht“, sagte Gesundheitsminister Laumann nach der Geiselnahme.
Nach der Geiselnahme in einer Klinik für psychisch kranke Straftäter in Bedburg-Hau, bei der später einer der beiden Flüchtigen von der Polizei erschossen wurde, hat NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) vor einer möglichen Überforderung der forensischen Kliniken durch eine bestimmte Gruppe von Patienten gewarnt. „Die Einweisung von Patienten nach dem Paragraf 64 in den Maßregelvollzug ist ein Problem, das uns sehr zu schaffen macht“, sagte Laumann am Freitag im Gesundheitsausschuss des Landtags.
Die Geflüchteten, die beide wegen schweren Raubes verurteilt worden waren, gehörten zu dieser seit Jahren anwachsenden Gruppe von Patienten, die die forensischen Kliniken in NRW an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen. Bei diesen so genannten „64-er Patienten“ handelt es sich um Suchtkranke, die neben einer Haft bis zu zwei Jahre zur Therapie in einer Forensik verurteilt werden können.
Die Umstände der Flucht in Bedburg-Hau waren offenbar skandalös. Einer der Täter hatte ohne Probleme in der Klinik ein Messer bekommen. Die Pforte wurde geöffnet, damit die Patienten zu später Stunde Müll rausbringen konnten. Außerdem gelangten sie an Auto- und Haustürschlüssel eines Mitarbeiters.
Sorge vor Vertrauensverlust in Bedburg-Hau
Zum Zeitpunkt der Geiselnahme war wohl auch nicht ausreichend Personal in der Klinik, hieß es im Gesundheitsausschuss. Die Sicherheitsmängel in Bedburg-Hau würden nun behoben, sagte eine Abteilungsleiterin des Gesundheitsministeriums.
Weil die Täter es recht leicht hatten, die Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden, meinte Karl-Josef Laumann: „Wir müssen höllisch aufpassen, dass uns in Bedburg-Hau nicht das Vertrauen der Menschen verloren geht.
Zur Erinnerung: Zwei gefährlichen, wegen schweren Raubes verurteilten Forensik-Patienten gelang in dieser Woche mit einer Geiselnahme die Flucht aus der Klinik in Bedburg-Hau. Einer der Flüchtigen wurde bei einer erneuten Geiselnahme erschossen. Die Umstände der Flucht beschäftigten am Freitag den Gesundheitsausschuss des Landtags in einer Sondersitzung. Dabei wurde deutlich: Es gibt eine riskante Entwicklung, die den Maßregelvollzug in NRW – also die Behandlung psychisch kranker Straftäter – extrem belastet.
Hatten es die Geiselnehmer zu leicht?
Nach mehrfachem Nachhaken der Abgeordneten Lisa Kapteinat (SPD) berichtete die Maßregelvollzugs-Expertin im NRW-Gesundheitsministerium, Gudula Hommel, von Sicherheitsproblemen in der Forensik des Landschaftsverbandes LVR in Bedburg-Hau. Davon, dass einer der Geiselnehmer leicht an ein Messer kommen konnte. Dass die Flüchtenden mit einem ihrer Opfer zum „Müll rausbringen“ zu später Stunde die Pforte passieren konnten. Dass sie den Autoschlüssel einer Geisel hatten.
„Das hätte in jeder anderen Anstalt wohl genauso passieren können“, vermied NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) Schuldzuweisungen. Er und Gudula Hommel kamen aber auf ein Problem zu sprechen, das alle forensischen Kliniken im Land haben: Dort würden zunehmend Straftäter behandelt, die eigentlich nicht in den Maßregelvollzug gehörten.
Überbelegung ist das größte Problem
Auch deshalb seien die Kliniken so voll, und es müssen neue Standorte geplant werden. „Überbelegung ist das größte Problem im Maßregelvollzug in NRW, vor allem bei den ,64-ern'“, sagte Hommel. Laumann nannte die Lage „sehr angespannt“. Oft müssten sich zu viele Patienten ein Zimmer teilen.
Schon vor drei Jahren warnte Tilmann Hollweg, Maßregelvollzugsdezernent beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), eindringlich vor der Entwicklung bei den nach dem Paragraf 64 des Strafgesetzbuchs Verurteilten. Die Geiselnehmer von Bedburg-Hau gehören zu dieser Gruppe. Es sind Straftäter, die neben einer Haft zu einer Therapie im Maßregelvollzug verurteilt werden, weil ihre Tat verbunden ist mit einem „Hang“ zu Drogen- oder Alkoholkonsum. Viele dieser Patienten, von denen einige schwere Verbrechen begangen haben, hätten in einer Forensik aber nichts zu suchen, meinen Experten.
Offene "Schleuse" für kaum Therapiebereite
„Im Maßregelvollzug landen zu schnell und zu viele Straftäter, bei denen ein Suchtproblem mit Alkohol oder Drogen die begangenen Delikte nur vordergründig beeinflusst hat. Für primär kriminelle und voll schuldfähige, aber kaum therapiebereite Täter ist hier die Schleuse zu weit offen“, sagte Hollweg damals. Passiert ist seitdem wenig. Der Bund, der für diese Gesetzgebung zuständig ist, müsse endlich reagieren, forderte NRW-Minister Laumann am Freitag unter dem Eindruck der Geiselnahme in Bedburg-Hau.
Tatsächlich steigt die Zahl der „64-er Patienten“ in den Forensiken in NRW deutlich: Zwischen April 2010 und März 2020 von 466 auf 898. Derzeit gibt es insgesamt rund 3200 Patienten im Maßregelvollzug – etwa 500 mehr als vor zehn Jahren, so das Gesundheitsministerium.
"Aldi-Paragraf" 64
Mediziner im Maßregelvollzug berichten von einem „Run“ auf den Paragrafen 64. Es kursieren Witze über den „Aldi-Paragrafen“, bei dem ein Täter angeblich „billiger“ davon kommt. Straftäter rechneten mit einer angenehmeren Unterbringung in der Forensik und einer früheren Entlassung im Vergleich zum Gefängnis. Nicht wenige dieser Patienten seien „therapieunwillig“, heißt es. Fest steht: „Etwa die Hälfte der Therapien bei den ,64-ern' ist nicht erfolgreich“, so Gudula Hommel.
Scheinbar wird es Straftätern vor Gericht leicht gemacht, in die forensische Psychiatrie zu kommen und so eine Haft zu vermeiden. Denn es reicht schon ein vager „Hang“ zum Konsum von Alkohol und Rauschmitteln. „Hang ist ein sehr unbestimmter Begriff“, findet Hommel.
Fünf neue Kliniken in der Planung
Darf man solche Probleme überhaupt öffentlich ansprechen, oder sollten sie im Kreis von Fachleuten bleiben? Im Gesundheitsausschuss gehen die Meinungen dazu auseinander. Schließlich könnten so Ängste in der Bevölkerung verstärkt werden. SPD-Gesundheitsexperte Josef Neumann hält nichts vom Verschweigen. „Wer einen modernen Maßregelvollzug will, der erreicht das nur durch Transparenz“, sagte er.
Gesundheitsminister Laumann treibt die Sorge um, die Umstände der Geiselnahme in Bedburg-Hau könnten die Bürger verunsichern: „Das Vertrauen der Menschen ist das höchste Gut. Wir müssen höllisch aufpassen, dass uns dieses Vertrauen nicht verloren geht.“ Das Problem mit den „64-ern“ treffe aber alle Standorte. Laumann: „Der Maßegelvollzug bekommt eine Klientel, für die er nicht in allen Fällen die richtige Institution ist.“
Unter dem Eindruck steigender Patientenzahlen beschloss NRW 2012 ein Ausbauprogramm für den Maßregelvollzug. Insgesamt 750 neue Plätze sollen an fünf Klinik-Standorten entstehen: in Bonn, Lünen, Haltern, Hörstel und Wuppertal. In forensische Kliniken werden Straftäter eingewiesen, bei denen ein Gericht Schuldunfähigkeit aufgrund einer Erkrankung feststellt und die für die Allgemeinheit gefährlich sind.
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