Essen. Ein Essener rettet Lebensmittel aus Containern – obwohl das eine Straftat ist. Minister Cem Özdemir will das ändern. Das sagen NRW-Politiker.
Mit 17 Jahren ist Toni das erste Mal in den Container gestiegen. Es war nach einer durchfeierten Partynacht, frühmorgens, als er darin die vielen belegten Brötchen und Baguettes auf dem Gelände beim Bäcker um die Ecke entdeckte. „Ach krass, das ist alles umsonst“, dachte der Essener und nahm sich kurzerhand ein paar Brötchen mit. Von da an ist der heute Mitte-30-Jährige häufig zum Container geschlichen. Nachts, wenn die Läden geschlossen hatten und auch sonst niemand auf den Straßen unterwegs war. Und nachdem er dann einen Bericht über das „Containern“ im Fernsehen gesehen hatte, kletterte er mit einem Freund regelmäßig über die Zäune von Supermarktgeländen, um Lebensmittel zu containern.
Mit dem Begriff ist gemeint, noch genießbare Lebensmittel aus Abfallcontainern (zum Beispiel von Supermärkten) zu holen. Prall gefüllt seien die verschiedenen Behälter gewesen, erzählt Toni, mit Joghurt, Quark, Fleisch und Fisch. Außerdem fand er darin etliche Gemüse- und Obstsorten, aber auch Hygieneprodukte wie Shampoo. „Das Essen sah noch gut aus, wurde aber so lieblos in die Tonne gehauen, dass an frischen Bananen zum Beispiel dreckige Zewa-Tücher klebten“, erinnert er sich.
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Anfangs containerte Toni, der im sozialen Bereich arbeitet, aus Eigennutz. „Ich konnte unglaublich viel Geld sparen und gut essen.“ Während seines Studiums nahm er vor allem Produkte mit, die er sich nicht leisten konnte. Beim Containern lernte er ganz neue Obst- und Gemüsesorten kennen, probierte zum Beispiel erstmals Kiwibeeren. Gerade in der Zeit vor Weihnachten gibt es in den Containern immer viel zu holen, „einmal habe ich mehrere gefrorene Spanferkel vorgefunden“. Schließlich wurde bei ihm aus Eigennutz eine Überzeugung, denn: „Es ist eine Sauerei, dass so viele gute Lebensmittel unnötigerweise weggeworfen werden“, findet Toni. Allein mit einem Supermarkt-Container könne man sicherlich viele hungrige Menschen ernähren.
Landwirtschaftsminister Özdemir für straffreies Containern
Toni heißt eigentlich anders, seinen richtigen Namen möchte er öffentlich nicht nennen, weil das Containern strafbar ist. Laut Strafgesetzbuch ist das Wegnehmen einer „fremden beweglichen Sache“ rechtswidrig und wird wegen Diebstahls mit einer Geld- oder sogar einer Freiheitsstrafe geahndet.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) plädierte kürzlich in einem Interview mit der Rheinischen Post dafür, das Containern von Lebensmitteln straffrei zu stellen. Wer verzehrfähiges Essen aus Abfallbehältern retten wolle, dürfe dafür nicht belangt werden. „Ich glaube, wir alle wünschen uns, dass sich unsere Polizei und Gerichte stattdessen um Verbrecherinnen und Verbrecher kümmern“, sagte Özdemir.
WWF-Studie zeigt: 18 Millionen Tonnen Lebensmittel landen jährlich im Müll
Laut einer Studie vom WWF landen bundesweit jährlich über 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Der überwiegende Teil (10 Millionen Tonnen) wäre bereits heute vermeidbar. Das meiste davon falle allerdings in den Privathaushalten an.
Auch auf Landesebene wünschen sich die Grünen einen straffreien Umgang mit dem Containern: „Es ist doch ein nicht verständliches Ungleichgewicht, dass es auf der einen Seite rechtlich heikel ist, Lebensmittel aus Mülltonnen zu entwenden, aber die Suche nach dem besten Sofa für die Studi-WG auf dem Sperrmüll völlig normal ist“, sagt Tim Achtermeyer, Co-Vorsitzender der NRW-Grünen, auf Anfrage dieser Redaktion.
Die Grüne Jugend begrüßt hierzulande ebenfalls den Vorstoß des Bundesministers. Der Schritt, Containern zu legalisieren, sei längst überfällig, so die NRW-Vorsitzende, Nicola Dichant. Gerade in Zeiten der Energiekrise und der Knappheit einiger Lebensmittel, sei eine Bestrafung „völlig unverständlich“. Jedoch könne es nicht nur bei einer Legalisierung bleiben, da das eigentliche Problem darin bestehe, dass das Essen überhaupt weggeworfen wird. „Deswegen befürworten wir eine grundsätzliche Pflicht für Supermärkte und Lebensmittelgroßhändler, die Lebensmittel zu spenden“, so Dichant.
„Kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat“
NRW-Landwirtschaftsministerin Silke Gorißen (CDU) sagt auf Anfrage der Redaktion: „Unser Hauptaugenmerk beim Thema Lebensmittelverluste sollte darauf liegen, dass Lebensmittel erst gar nicht im Müll landen, wenn sie noch für den Verzehr geeignet sind.“ Mit verschiedenen Projekten wolle das Ministerium ein Verständnis für die Zusammenhänge zwischen der Ernährungsweise und den Auswirkungen auf das Klima schaffen.
Klare Worte gegen das Containern von Lebensmitteln findet Christian Böttcher, Sprecher vom Handelsverband Lebensmittel: „Wer verschlossene Mülltonnen aufbricht und damit Eigentum anderer beschädigt, um an Abfallbehälter mit mutmaßlich verzehrfähigen Produkten heranzukommen, begeht keine Kavaliersdelikte, sondern Straftaten.“ Das Straf- und Strafverfahrensrecht biete jedoch ausreichende Möglichkeiten, im Einzellfall über die Delikte zu entscheiden. Im Sommer 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise zwei Beschwerden gegen eine strafgerichtliche Verurteilung bezüglich des Containerns fallen gelassen.
Verzehrbare Lebensmittel, die Händler nicht mehr verkaufen können, werden laut Böttcher in der Regel an gemeinnützige Organisationen wie die Tafel gespendet. Neben regelmäßigen Tafel-Spenden investierten Supermarkt-Ketten wie die Edeka-Filialen in NRW unter anderem in Systeme, die den Warenfluss optimieren und ein Überangebot vermeiden sollen, erklärt Rhein-Ruhr-Sprecherin von Edeka, Simone Erkens. Laut einer Metro-Sprecherin kooperiert der Großhändler beispielsweise mit der Lebensmittelretter-App „To Good To Go“.
Von der Polizei erwischt
Toni „rettet“ die Lebensmittel heute nicht mehr für sich selbst, sondern spendet sie an soziale Initiativen oder verteilt sie in der Nachbarschaft. Dafür nimmt er anstelle des Containerns jetzt immer häufiger den Weg über das „Foodsharing“. Innerhalb der Initiative rettet er krumme Äpfel, Gemüse mit Dellen oder Konserven, die zwar das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, aber noch genießbar sind, in Absprache mit einigen Supermärkten. „Es kann so einfach sein, die Produkte freiwillig abzugeben“, findet Toni. Das müsse flächendeckend passieren. „Dann muss niemand mehr über einen Zaun klettern, sich in Container reinschmuggeln, sich schmutzig und vor allem strafbar machen.“
Angst, bei seinen nächtlichen Containerzügen erwischt zu werden, habe er nie gehabt, sagt Toni. Bis zu dem Tag, als zwei Polizeibeamte plötzlich vor ihm standen, die zufällig in der Gegend unterwegs waren. „Sie haben in meine Tüten geschaut und mich darauf hingewiesen, dass ich mich mit dem Containern strafbar mache.“ Einer Anzeige sei er allerdings entgangen. Seitdem sei immer „etwas Adrenalin“ dabei gewesen, sagt Toni.