Essen/Bielefeld. Die biblische Weihnachtsgeschichte kann ein Leitfaden in der Krise sein, meint die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus im Interview.
„Sie legten ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war“, heißt es in der Weihnachtsgeschichte über die Geburt Jesu. Was sagt uns das heute, wenn wir an die Flüchtlinge denken, die in Deutschland Zuflucht und Unterkunft suchen?
Annette Kurschus: Keinen Raum zu finden, wo man willkommen ist und bleiben kann: Das ist ein ganz zentrales Thema der Bibel. Die Weihnachtsgeschichte erzählt, dass in diesem Kind in der Krippe Gott selbst zur Welt kommt. Das heißt: Gott selbst setzt sich der Erfahrung aus, keine Herberge zu finden auf der Erde, die doch seine Erde ist. Wenn man das bis ins letzte denkt, stellt die Weihnachtsgeschichte alles auf den Kopf – oder vom Kopf auf die Füße: Der Allmächtige begibt sich in eine ungesicherte und ohnmächtige Situation der Herbergssuche. Und keiner weiß: Wird er eine Bleibe finden?
Sind die Menschen in Deutschland angesichts der Krisen, mit denen sie selbst jeden Tag zu kämpfen haben, barmherzig genug mit den Notleidenden aus der Ukraine und anderen Teilen der Welt?
Ich habe größten Respekt davor, dass die Menschen in unserem Land, die bis weit in die Mittelschicht hinein zunehmend um ihre eigene Existenz besorgt sind, sich bereitwillig um andere kümmern. Auch in unseren Kirchengemeinden beobachte ich, wie groß die Bereitschaft ist, Geflüchtete aufzunehmen. Ich höre ganz oft den Satz: Da weiß man, was wirkliche Not bedeutet. Ja, es gibt viel Barmherzigkeit. Natürlich gibt es auch andere Stimmen, die sind zwar manchmal überproportional laut, aber ganz gewiss nicht tonangebend.
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Gibt es im Vergleich zu 2015 und 2016 einen Unterschied in der Willkommenskultur?
Ich nehme eine Weiterentwicklung wahr. Politisch wird alles dafür getan, die ukrainischen Flüchtlinge nicht nur aufzunehmen, sondern sie möglichst schnell tatsächlich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Sie kommen zügig in Bildungs- und Arbeitsprozesse. Und siehe da: Das geht! Das hat sicher auch damit zu tun, dass aus der Ukraine vorwiegend Frauen und Kinder kommen, 2015 waren viele unter denen, die zu uns kamen, junge Männer. Ich werbe entschieden dafür, Geflüchtete nicht unterschiedlich zu behandeln, ganz gleich woher sie kommen. Und ich bin zuversichtlich, dass wir durch die aktuellen Erfahrungen noch sensibler dafür werden, was im Umgang mit Geflüchteten in unserem Land unbedingt verbesserungsbedürftig ist.
Seit Ausbruch des Krieges wird die öffentliche Debatte von der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine bestimmt. Kampfpanzer und Luftabwehrsysteme statt Diplomatie – geht hier ein Riss durch die Gesellschaft?
Ich würde es eher als innere Zerrissenheit beschreiben. Die Uneinigkeit hat weniger mit zwei Lagern zu tun, die einander gegenüberstehen. Der Riss geht vielmehr durch jeden einzelnen hindurch, auch durch mich. Die klare Botschaft bleibt dabei aus christlicher Sicht: Keine Waffe ist geeignet, Frieden zu schaffen. Und gleichzeitig merken wir, dass wir Menschen, die in einem verbrecherischen Angriffskrieg überfallen wurden, auch mit Waffen unterstützen müssen, um sich zu verteidigen. Sie können sich nicht allein mit gewaltlosem Widerstand schützen. Wo der praktiziert wird, bewundere ich ihn, aber wer bin ich, ihn zu verlangen von Menschen, die bombardiert werden?
Bleibt denn kein anderer Weg als Waffengewalt?
Ich werde nicht müde zu betonen, dass es diplomatische Bemühungen geben muss. Ich gehe auch davon aus, dass es die gibt. Es gehört ja zur Natur der Diplomatie, dass sie vor allem im Geheimen geschieht. Wir als Kirche stehen jedenfalls dafür, dass Gesprächsfäden niemals abreißen dürfen. So weit darf die Verteufelung der anderen Seite nicht gehen, dass man alle Brücken abbricht. Das ist meine tiefe Überzeugung. Wir brauchen Gesprächskanäle, wenn es eines Tages echte Friedensverhandlungen geben soll. Ich meine nicht das Gespräch mit Putin oder mit Kyrill höchstpersönlich. Es gibt viele andere Menschen, die in Russland Verantwortung tragen, zivile Kräfte. Und es gibt kirchliche Ebenen unter dem Patriarchen. Die Bemühungen um Kommunikation dürfen wir nicht aufgeben, gerade jetzt, da aus diesem Krieg ein so elender Marathonlauf geworden ist. Die Bilder von frierenden und verzweifelten Menschen, die nicht wissen, wie sie über den nächsten Tag kommen sollen - die brechen einem fast das Herz.
Sie haben ein Buch herausgegeben mit dem Titel: „Die Frage nach Gott in der Pandemie“. Müssen wir nicht jetzt die Frage nach Gott im Krieg stellen?
Wir lernen gerade, dass wir die Gegenwart Gottes nicht nur da verorten können, wo alles gut ist oder schnell wieder gut wird. Weihnachten ist das Fest des großen Bruchs. Gott bricht mit sich selbst. Der Allmächtige begibt sich in Gestalt eines kleinen, wehrlosen Kindes, das Tod, Hunger und Kälte ausgesetzt ist. Wir haben also mit Gott auch und gerade da zu rechnen, wo sämtliche Sicherheiten wegbrechen. Das heißt: Jetzt, wo wir am härtesten getroffen sind, können wir mit Gott rechnen. Und mitten in der Schwäche mit seiner göttlichen Kraft, die alles verändern kann.
Verstehen Sie die Zweifler, die fragen, warum Gott wieder einmal Krieg zulässt?
Ich vermute, dass diese Frage vor allem verzweifelten Protest ausdrückt und Wut auf diejenigen, die Gottes Friedensgebot verachten. Die Friedenstifter heißen Kinder Gottes und nicht die Kriegstreiber. Aber Gott hält sich nicht heraus aus Gewalt und Unrecht. Gott macht ernst mit der Abgründigkeit des Menschen. In uns allen gibt es Abgründe. Indem Gott selbst Mensch wird, setzt er sich dieser Abgründigkeit aus. Mir hilft das sehr, dass wir als Christinnen und Christen diese dunklen Seiten nicht ausblenden müssen. Im Gegenteil. Weil wir um das Licht wissen, das ins Dunkel gekommen ist, müssen wir das Dunkle nicht schönreden.
Wie kann Kirche in diesen Zeiten Halt geben?
Menschen buchstäblich groß und stark zu machen, das ist unsere Aufgabe. Wir reden heute viel über Resilienz, gemeint ist damit die Widerstandfähigkeit, mit Katastrophen, Unsicherheit und Angst umzugehen. Dafür steht die große christliche Botschaft, die da heißt: Dein Leben, Mensch, hängt nicht allein an deiner Kraft und an dem, was du schaffen kannst. Wenn deine Möglichkeiten am Ende sind, kann Gott neue Anfänge möglich machen. Dies ist oft eine Hoffnung gegen jeden Augenschein. Aber es ist etwas völlig anderes als positives Denken oder Optimismus. Der christliche Glaube gibt auch da die Hoffnung nicht auf, wo es nach menschlichem Ermessen keinen Anlass zur Hoffnung gibt.
Viele Gläubige haben in der Vergangenheit der Kirche enttäuscht den Rücken gekehrt. Wie lässt sich Vertrauen zurückgewinnen?
Es ist ein Trend unserer Zeit, dass Menschen misstrauisch werden gegenüber den großen Institutionen. Viele wollen sich nicht mehr auf Dauer binden, das merken wir ganz besonders. Da bröckelt etwas weg. Und die Kirchen erleben aus unterschiedlichen Gründen einen Vertrauensverlust. Vor 20 Jahren musste man sich noch rechtfertigen, wenn man nicht zu einer der beiden großen Kirchen gehörte, heute ist es schon beinahe umgekehrt. Offenbar überlagert die Eigendynamik der Institution in der Wahrnehmung vieler Menschen zunehmend die Inhalte, für die wir stehen. Sobald ich in Gesprächen auf den Kern unseres Glaubens zu sprechen komme, stoße ich auf viel Interesse, auch bei denen, die sagen: ich habe mit Kirche nichts zu tun. Wir müssen weiter beharrlich über unsere Kernfragen reden.
Über das Jahr bleiben die Kirchenbänke sonntags meist leer, nur zu Weihnachten sind sie gut gefüllt. Ist das unaufrichtig?
Ich habe das nie als Ärgernis empfunden. Wenn die Menschen zu Weihnachten einen Gottesdienst besuchen, ist es aller Mühen wert, dass sie alle Aufmerksamkeit erhalten und aus dieser einen Stunde Gottesdienst etwas mitnehmen können, was sie betrifft und berührt. Ich freue mich über jeden einzelnen Menschen, der zum Gottesdienst kommt, und sei es nur zu Weihnachten.
Welche Botschaft möchten Sie den Gläubigen zu den Feiertagen mit auf den Weg ins neue Jahr geben?
Wir feiern Weihnachten in einer Zeit, in der viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten weggebrochen sind: Wir haben gedacht, dass wir in einem friedlichen Europa leben. Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass so viele Menschen in die Armut abrutschen können, die bisher in bescheidenen, aber sicheren Verhältnissen lebten. Weihnachten ist das Fest, an dem Gott mit sich selber bricht. Gott, der die Welt ins Leben rief und alles Leben geschaffen hat, bricht mit seiner göttlichen Erhabenheit und begibt sich in die menschlichen Niederungen eines verletzlichen kleinen Kindes. Das gibt mir Hoffnung. Jener, bei dem wir die größte Macht vermuten, begibt sich in die größte Ohnmacht. Dann wird auch unsere eigene Ohnmacht nicht aussichtslos sein, weil Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist und durch sie gewaltige Veränderungen bewirken kann. Dieses göttliche Geheimnis lässt mich staunen und stammeln – und es bewahrt mich vor aussichtsloser Verzweiflung.