Essen. Finanzexperte Martin Junkernheinrich warnt vor immer höheren Altschulden – und fordert eine schnelle Lösung von Bund und Land.

Explodierende Zinsen und die weiter ungelöste Altschuldenfrage bringen die tief in der Kreide stehenden Ruhrgebietsstädte finanziell immer mehr in Bedrängnis. „Die Zeitbombe tickt schon länger. Jetzt tickt sie lauter“, sagte der renommierte Finanzexperte Prof. Martin Junkernheinrich der WAZ.

Finanzsituation vieler Kommunen noch vergleichsweise stabil

Zwar komme die wachsende Zinslast bei den Kommunen anders als in der Privatwirtschaft oder im privaten Wohnungsbau zunächst zeitverzögert an, so Junkernheinrich, der auch Autor des jährlichen Kommunalfinanzberichtes des Regionalverbandes Ruhr ist. Hintergrund: Viele Kommunalkredite sind über verschiedene Laufzeiten gestaffelt. Zudem ist die Finanzsituation vieler NRW-Städte dank zahlreicher staatlicher Stützungspakete gemessen am Krisenumfeld in diesem Jahr vergleichsweise stabil. „Doch das kann sich schnell ändern, „wenn im kommenden Jahr die Rezession greift“, so Junkernheinrich.

Investitionen betroffen

Außerdem treffe der Zinsanstieg nicht nur die häufig diskutierten Kassenkredite, sondern inzwischen auch die sogenannte Investitionsverschuldung. Über sie werden die meisten kommunalen Bauprojekte mitfinanziert. Öffentliche Bauschulden galten als unkritisch, weil es für sie anders als bei den Kassenkrediten einen realen Gegenwert gibt.

Doch inzwischen leiden die kommunalen Investitionen nicht nur unter der Zinsentwicklung, sondern auch unter der Inflation, dem Fachkräftemangel und den Lieferkettenproblemen. „Die Bauinflation liegt derzeit viel höher als die allgemeine Preissteigerung, nämlich bei 17 bis 18 Prozent, so Junkernheinrich. Kommunen müssten also plötzlich sehr viel mehr Geld in die Hand nehmen, um dasselbe Gebäude zu errichten oder zu sanieren. „Das wird zwangsläufig dazu führen, dass nicht alle Vorhaben realisiert werden können.“

21 Milliarden Euro an kommunalen Kassenkrediten

Beim Thema Altschulden dringt Junkernheinrich auf eine schnelle politische Lösung und sieht Bund und Land gleichermaßen in der Pflicht. „Alle müssen sich bewegen“, mahnt der Finanzprofessor der TU Kaiserslautern – und steht damit nicht allein. Zuletzt hatte der NRW-Städtetag eine zeitnahe Lösung bis spätestens Mitte 2023 gefordert. Nach seinen Berechnungen türmen sich in den NRW-Kommunen Kassenkredite in Höhe von 21 Milliarden Euro auf, knapp 60 Prozent davon im Ruhrgebiet. Fachleute sind sich einig, dass die Städte diese Kredite aus eigener Kraft nicht mehr tilgen können. Nach Berechnung von Martin Junkernheinrich wären 17 Städte bei einem kommunalen Tilgungsanteil von 50 Prozent und einer lokalen Höchstgrenze von 77 Euro je Einwohner - das ist mehr als dreimal so hoch wie beim hessischen Entschuldungsprogramm - auch nach 50 Jahren noch nicht tilgungsfrei.

Nur noch NRW ringt um eine Lösung

Diskutiert wird deshalb seit Langem eine Teilübernahme der Kassenkredite durch Bund und Land. Im Mai hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) Zuschüsse in Höhe von bundesweit zehn Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Allerdings wäre dafür die Mitsprache der Länder nötig. Das Problem: Nur noch NRW würde von der Schuldenregelung profitieren. Die drei anderen Bundesländer mit derart verschuldeten Kommunen – Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland – haben bereits Lösungen für ihre Städte gefunden. Junkernheinrich: "In Nordrhein-Westfalen besteht die Gefahr, dass krisenbedingt neue Schulden aufgenommen werden, bevor für die Altschulden eine Lösung gefunden wurde."