Essen. Die schwersten Krisen seit dem Krieg überschatten die Regierungsarbeit der Ampel. SPD-Abgeordnete sehen Städte im Ruhrgebiet besonders belastet.

Mit 18 direkt gewählten Bundestagsabgeordneten verfügt die Ruhr-SPD im Bundestag über jede Menge Wumms. Keine andere Region kann nur annähernd so viel politisches Gewicht in Berlin aufbieten. Nach der Bundestagswahl musste die neue Regierungskoalition schnell in den Krisenmodus schalten. Ukraine-Krieg, Flüchtlings- und Energiekrise, Preisexplosion, Inflation und eine Neubestimmung des Kurses gegenüber Russland und China bestimmten die politische Agenda.

Ein Jahr Ampel – bei einem Besuch in der WAZ-Redaktion zogen die SPD-Parlamentarier aus dem Revier eine erste Bilanz. „Wir habe eine der schwersten Zeiten durchzustehen seit Ende des Zweiten Weltkriegs“, gab Ruhr-SPD-Sprecherin Michelle Müntefering (Herne) den Ton vor.

Zur Ampel und zur Koalitionsarbeit

Trotz aller Fliehkräfte sehen die SPD-Abgeordneten in der rot-grün-gelben Ampel-Koalition deutlich mehr als nur ein Zweckbündnis. Die Ampel werde es schaffen, mehr als nur eine Wahlperiode zu regieren, davon sind die Politiker von der Ruhr überzeugt. „Die Ampel hat das politische Potenzial, das gesamte gesellschaftliche Spektrum der Demokratie abzudecken“, sagt Michelle Müntefering. Die Union als Regierungspartei werde derzeit nicht gebraucht. Allerdings müsse das Bündnis so zusammenarbeiten, dass die SPD am Ende nicht der Therapeut der Koalition ist.

Axel Schäfer (Bochum) stellt heraus, dass diese Koalition auch im europäischen Vergleich viel an gesellschaftlicher Realität abbilde. „Das ist eine Chance“. Für Markus Töns (Gelsenkirchen) arbeiten die drei Ampel-Parteien trotz aller Störfeuer, die es in einem so breit aufgestellten politischen Bündnis nun einmal gebe, konstruktiv zusammen. Jens Peick (Dortmund) hofft auf den Langfrist-Effekt. „Wir brauchen mehr Verständnis in der Gesellschaft, dass die Krise nicht von uns gemacht wurde, sondern von außen auf uns zugekommen ist“, sagt Peick. „Wenn es am Ende um die Wahlentscheidung geht, „werden die Menschen das besonnene Handeln unserer Politik wertschätzen.“

Zur Lage der SPD in NRW

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Von dem Bonus als Kanzlerpartei kann die SPD in Nordrhein-Westfalen offenbar nicht profitieren. In Umfragen sackte die Partei knapp sechs Monate nach der Landtagswahl, bei der sie 26,7 Prozent der Stimmen erhielt, weiter ab und liegt nach dem jüngsten NRW-Trend (WDR) bei nur noch 23 Prozent. Die SPD-Abgeordneten spielen den Ball an die schwarz-grüne Koalition weiter: Der Ukrainekrieg sorgt offenbar für Unsicherheit in der Bevölkerung und verdüstert auch die wirtschaftlichen Erwartungen vieler Menschen. Für diese schlechte Stimmung macht die Ruhr-SPD die Landesregierung mitverantwortlich. „Aus Düsseldorf kommt zu wenig, obwohl es Haushaltsüberschüsse gibt“, sagt Michelle Müntefering.

Zu den Altschulden

Die kommunalen Altschulden sind vor allem ein Ruhrgebiets-Thema. Nach früheren Berechnungen türmen sich in den Revierstädten insgesamt fast 15 Milliarden Euro an Kassenkrediten auf - fast ein Drittel aller kommunalen Dispokredite in Deutschland. Als Lösung des Problems wird seit Langem eine Teilkompensation der Schulden durch Bund und Länder diskutiert. Angesichts der Krisen in der Welt schien das Problem der kommunalen Altschulden von der politischen Tagesordnung verschwunden zu sein. Doch nun steigen die Zinsen und damit der Handlungsdruck.

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„In der Frage der Altschulden muss dringend eine Lösung her“, sagt Michelle Müntefering. Sie warnt davor, dass sich das Problem ausweitet. „Selbst die Kommunen, die eisern gespart haben, kommen nicht mehr weiter, wenn die Zinsen weiter steigen“, so Müntefering. Hinzu komme ein durch die Energiekrise ausgelöstes Liquiditätsproblem bei den Stadtwerken. Nach dem der Bund bereits Zusagen für die Entschuldung der Kommunen gemacht habe, sei nun die NRW-Landesregierung am Zug, fordert Müntefering: „Das Mikadospiel muss endlich aufhören. NRW muss sich bewegen.“

Zu Flüchtlingen

Viele Kommunen in NRW kommen bei der Unterbringung und der Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine und aus anderen Ländern an ihre Grenzen. Inzwischen ist vielerorts die Lage angespannter als während der Flüchtlingskrise 2015/16. „Die Sorge in den Kommunen ist groß“, weiß Dirk Heidenblut aus Essen. „Nicht umsonst hat der Bund kürzlich beschlossen, die Kommunen stärker zu unterstützen“, sagt er und spielt auf die zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro an, die Berlin den Ländern versprochen hat. Doch gehe es nicht allein um mehr Geld, auch die Verteilung der Menschen auf die Kommunen müsse besser geregelt werden, mahnt Dirk Vöpel aus Oberhausen. „Die Städte im Ruhrgebiet sind überproportional belastet.“

Zum Ukrainekrieg

Bärbel Bas aus Duisburg war als Bundestagspräsidentin die erste hohe Repräsentantin Deutschlands, die nach Kiew gereist ist. „Wenn man in den Trümmern von Butscha und Irpin steht, dann hinterlässt das einen bleibenden Eindruck“, erzählt sie von ihrer Reise Anfang Mai. Sie sei nicht mit dem Versprechen in die Ukraine gereist, Waffen zu liefern, „das war nicht meine Mission. Dennoch wussten die Menschen, was Deutschland leistet und sie waren dankbar, dass wir viele Frauen und Kinder aufgenommen haben“, berichtet die Duisburgerin. „Ich stieg aus dem Zug und der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk fragte mich: Darf ich Sie umarmen? So einfach ist das manchmal“, erinnert sich Bas.

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An ein schnelles Ende des Krieges glaube sie nicht. „Was uns beschäftigt ist die Frage: Wie halten wir die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine aufrecht, wenn im Winter noch mehr Flüchtlinge kommen und die Energiepreise steigen?“ Dennoch müsse Deutschland bereits jetzt beim Wiederaufbau zerstörter Städte helfen. Sebastian Fiedler (Wahlkreis Mülheim-Essen) regte an, für diesen Zweck auch eingefrorene russischen Gelder einzusetzen. „Wir arbeiten gerade an einem internationalen Regelwerk, um das Vermögen der Putin-Unterstützer einem Wiederaufbaufond zuzuführen“, sagte er.

Zum Verhältnis zu China

Die lautstarke Kritik an der China-Politik der Bundesregierung kann die Ruhr-SPD nicht nachvollziehen. „Kontakt halten und Grenzen ziehen. Das ist jetzt nötig“, brachte Michelle Müntefering die Regierungsstrategie auf den Punkt. „Die Peking-Reise des Bundeskanzlers war völlig richtig“, betont auch Axel Schäfer. „Was soll er dort anderes machen, als unsere Positionen zu vertreten?“

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Gleichwohl sei klar, dass Deutschland sich unabhängiger von der „Werkbank der Welt“ machen und seine Infrastruktur besser schützen müsse, meint Markus Töns aus Gelsenkirchen. Man müsse jetzt genauer hinsehen, wo und wie China in deutsche Unternehmen investiere. „Aber es wäre ein Fehler, wenn Deutschland als derzeit vorsitzendes Land der G7-Gruppe nicht mit China reden würde.“

Zur Russland-Politik

In der früheren Russland-Politik hat bereits SPD-Chef Lars Klingbeil Fehleinschätzungen seiner Partei eingeräumt. Auch Michelle Müntefering sagte, dass im Umgang mit Russland „mehr Skepsis angebracht“ gewesen wäre. „Deutschland hat aus guter Absicht gehandelt, aus der Überzeugung, dass wir in der Zusammenarbeit mit Russland Europa ein Stück besser und sicherer machen können. Wir haben uns getäuscht.“