Düsseldorf. Arbeiterwohlfahrt-Chef Michael Groß warnt: Die Schere zwischen Arm und Reich öffne sich weiter. Viele zögen sich in Private zurück.

Der Chef der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Michael Groß, hat nach einer Deutschlandtour zu AWO-Einrichtungen alarmierende Erkenntnisse gewonnen. „Viele Menschen sind erschöpft“, sagte der frühere Sprecher der SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Ruhrgebiet im Gespräch mit Matthias Korfmann. In vielen Haushalten nähmen die „Schmalhanst-Tage“ zu, und immer mehr Frauen und Männer zögen sich ins Private zurück.

Herr Groß, Welche Erwartungen haben Sie an die Gaspreisbremse?

Groß: Bund und Länder sollten eine Energie-Grundversorgung zu günstigen Preisen subventionieren. Für das, was zum Beispiel über einen Verbrauch von 80 Prozent des früheren durchschnittlichen Gasverbrauchs hinaus verbraucht wird, sollte ein Marktpreis verlangt werden, damit es Sparanreize für die Bürgerinnen und Bürger gibt. Die Haushalte, die wenig Energie verbrauchen, hätten von diesem Modell am meisten.

Die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm und andere Experten sprechen sich stattdessen für eine Einmalzahlung aus. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Groß: Nein. Jetzt mit der Gießkanne Geld über Deutschland regnen zu lassen, führt dazu, dass Menschen, die gar keine Unterstützung brauchen, ebenfalls davon profitieren. Das ginge zu Lasten jener, die sich teure Energie wirklich nicht leisten können. In Deutschland ist Armut bei mehr als 13 Millionen Menschen alltägliche Realität.

Welche Stimmung haben Sie bei Ihrer Reise durch Deutschland wahrgenommen?

Groß: Viele Menschen sind erschöpft. Ein Beispiel: Bei einem der Termine saß mir eine weinende Erzieherin gegenüber, die eine Kita im „Brennpunkt“ leitet: 27 Sprachen, 75 Prozent der Eltern verfügen über ein geringeres Jahreshaushaltseinkommen als 22000 Euro. 40 Köpfe arbeiten in der Kita und zwar schon lange über der persönlichen Belastungsgrenze. Sie versuchen, die von ihrer finanziellen Situation erschöpften Eltern zu unterstützen. Eigentlich würden in dieser Einrichtung 80 Hände mehr gebraucht, sagte mir diese Frau.

Die zunehmende soziale Schieflage im Land, die Folgen der Pandemie und die explodierenden Preise bringen viele Familien in eine unzumutbare Situation. Die „Schmalhanstage“ oder „Toast-Tage“ nehmen zu. Darunter leidet auch unsere Demokratie. Wenn der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sagt, wir könnten auch mal für die Freiheit frieren, dann ist das solchen Familien gegenüber ganz schön arrogant.

Die Demokratie leidet. Wie meinen Sie das?

Groß: Viele Menschen ziehen sich ins Private zurück und engagieren sich nicht mehr für die Gesellschaft. Das spüren Wohlfahrtsverbände wie die AWO, die auch auf Ehrenamtliche angewiesen sind. Ich glaube nicht, dass uns ein „Wut-Winter“ mit Massenprotesten droht, es ist eher Resignation und Entmutigung. Viele Leute haben den Eindruck, dass in der Politik über Themen geredet wird, die nicht ihren Alltag betreffen.

Zum Beispiel?

Groß: Wir reden viel über Klima- und Umweltschutz, und das ist auch gut so. Aber wir reden zu wenig darüber, dass der Zulauf in Kleiderkammern immer größer wird, Kinder immer weniger Freizeitangebote haben, Pendler sich die Fahrt zum Arbeitsplatz nicht mehr leisten können und viele Wohnquartiere regelrecht vergammeln.

Umwelt und Soziales müssten stärker aufeinander abgestimmt werden. Was spricht dagegen, mehr in die Höhe zu bauen, wie es in vielen anderen Staaten üblich ist? Das spart Flächenversiegelung, sorgt für mehr Wohnraum, und das Dach lässt sich noch begrünen.

Noch ein Beispiel: Als ich 2009 als Bundestagsabgeordneter anfing, kam ein Paketbote mit vier Paketen, als ich aufhörte, kamen vier Paketboten mit jeweils einem Paket. Man könnte Konzessionen für die „letzte Meile“ in einer Stadt oder einem Stadtteil an einen Paketdienst vergeben.

Und das 9-Euro-Ticket war wohl nur eine Kurzzeit-Erleichterung?

Groß: Dieses Ticket war super. Eine Riesen-Entlastung für untere und mittlere Einkommen und Empfänger von Sozialleistungen. Ein 59-Euro-Ticket würde das nicht leisten. Die 9-Euro-Variante war ein Joker, da müsste man wieder hin.

Der Bund ersetzt Hartz IV durch ein Bürgergeld. Ist das in Ihrem Sinn?

Groß: Ja, aber die Regelsätze müssen künftig per Gesetz an die Inflation angepasst werden, denn gerade diese Menschen benötigen schnell Hilfe und können nicht vertröstet werden.

Befürchten Sie, dass die neue Kindergrundsicherung zu knapp bemessen sein könnte?

Groß: Die Kindergrundsicherung sollte, je nach Einkommen, bis zu 700 Euro betragen und mindestens einen Garantiebetrag von 330 Euro vorsehen. Wir hoffen, dass es am Ende nicht heißt, für solche Leistung sei angesichts der vielen Krisen kein Geld mehr da.

Sie sagen, man solle lieber über Verteilungsgerechtigkeit reden als über Chancengleichheit zu philosophieren. Dafür muss man Menschen etwas wegnehmen, um es anderen zu geben, oder?

Groß: Genau. Wenn eine Erzieherin über 100 Jahre arbeiten muss, um das Jahresgehalt eines Dax-Vorstandes zu erreichen, dann ist das unanständig. Wir müssen über die Vermögen- und die Übergewinnsteuer reden. Wenn ich jeden Tag arbeiten gehe, die Energierechnung nicht bezahlen kann und auf den Urlaub verzichte, muss ich mich fragen, warum sich andere mit ihrem Vermögen nicht einschränken müssen.

Die AWO braucht haupt- und ehrenamtliche Unterstützer. Was halten Sie von einem sozialen Pflichtjahr?

Groß: Wir halten mehr von Freiwilligkeit als von Zwang. Man müsste die Konditionen für freiwilliges Engagement verbessern, zum Beispiel mit vergünstigtem Eintritt in Kulturveranstaltungen und günstigen Nahverkehrstickets, eine verbesserte berufliche Anerkennung dieser freiwilligen Tätigkeit.

Zur Person:

Michael Groß (66) war von 2009 bis 2021 SPD-Bundestagsabgeordneter. Seit Juni 2021 ist der Marler einer von zwei Vorsitzenden des Präsidiums des AWO Bundesverbandes. Dieser Wohlfahrtsverband gehört mit fast 250.000 Beschäftigten zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Er betreibt unter anderem Kitas, Heime, Frauenhäuser, Unterkünfte für Geflüchtete und ein Netz von Beratungsstellen.