Essen/Bielefeld. Energiepreise, Klimakrise, Inflation - Konfliktforscher Andreas Zick warnt vor Protesten im Winter. Entlastungspakete könnten daran wenig ändern.
Die Warnungen werden quer durch die Parteienlandschaft lauter. Kürzlich mahnte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor radikalen Protesten wegen der Preissteigerungen in der Energiekrise sowie der Inflation. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) kündigte an, die Polizei bereite sich intensiv auf einen möglichen Protestwinter vor. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach gar von drohenden „Volksaufständen“ als Folge eines Gaslieferstopps. Wird die Krise zur Kulisse für Proteste, Aufmärsche und Radikalisierungen? Die Redaktion sprach mit dem Sozialpsychologen Prof. Andreas Zick, Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Erwartet uns tatsächlich ein Protest- und Wutwinter?
Andreas Zick: Nach Einschätzung diverser Bundesländer und vor dem Hintergrund der Beobachtungen von Verfassungsschützern zu aktuellen extremistischen Umtrieben, ist davon auszugehen. Die Behörden wie auch Nichtregierungsorganisationen und Forscher beobachten, dass sich Rechtsextreme und radikale Querdenker für den Herbst und Winter präparieren.
Müssen wir uns auf große Demonstrationen einstellen?
Ich vermute, dass die Grundlagen der Prognosen vom sogenannten Wutwinter noch nicht ganz klar sind. Von Bildern großer Volksaufstände oder Erwartungen an Massenproteste, die noch größer sind als die schon großen Coronaproteste des Jahres 2020, halte ich wenig. Die Aktionen der „Systemgegnerinnen und -gegner“ sind lokaler und kampagnenorientierter geworden.
Womit müssen die Behörden demnach rechnen?
Wutwinter - das ist mir zu pauschal. Es handelt sich um zu erwartende Angriffe gegen Politik, Medien, Forschung und allen, die von rechtsextremen, Reichsbürgern, rechtspopulistischen, verschwörungsorientierten und ultrakonservativen bürgerlichen Milieus zu Feinden ernannt werden und nicht ihrem Bild vom „Volk“ entsprechen. Es handelt sich um erwartbare Hasskampagnen, bei denen Emotionen wie Wut, Zorn, Ekel und Hass politisch in Ideologien eingebettet sind, mit denen die Angriffe gerechtfertigt werden. Wir erwarten Alltagsaggressionen, wie Pöbeleien, Beleidigungen auf Demonstrationen, in Behörden und gegen Personen, die „das System“ repräsentieren.
Wächst der Hass auf die Repräsentanten des Staats?
Wir erwarten weitere Distanzierungen vom Staat. Gut sichtbar ist das im Wachstum der Reichsbürgerszene. Wir erwarten weiterhin die Bildung von extremistischen wie terroristischen Zellen im Umfeld von Protesten. Aus hoch radikalisierten Szenen heraus entwickeln sich solche Zellen. Das war im Rechtsextremismus, der die Proteste im Herbst und Winter bestimmen möchte, schon sichtbar. Insgesamt ist das radikale und gewaltorientierte Potenzial der unterschiedlichsten Gruppen, die nun das Thema Energie, Politik und Klimawandel aufsuchen, enorm hoch.
Aber die Unzufriedenheit in der Krise betrifft ja nicht nur extreme Gruppierungen…
Es haben sich neue Milieus gebildet, die bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichen. In unserer Mitte-Studie 2021 haben wir in einer repräsentativen Umfrage neue rebellisch-autoritäre, rechte Einstellungen identifiziert. Sie zeigen sich in nationalen Orientierungen, Elitenabwertung, Glauben an Verschwörungen und anderem. 23 Prozent meinten: Es ist Zeit, mehr Widerstand gegen die aktuelle Politik zu zeigen. Immerhin 22 Prozent stimmten dem teils-teils zu.
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Die gesellschaftliche Mitte lässt sich also mobilisieren?
Es geht um solche Stimmungen, die in Protesten abgeholt werden, die Bilder von Widerstand und Freiheitskampf transportieren. Es ist also weniger eine Frage, ob wir Wut sehen, sondern welche Wut und welche anderen Phänomene. Das müssen wir genau verstehen. Die Ideologien haben sich über die Coronaproteste verändert. Die Rechte hat sich dort modernisiert, auch aufgeblasen und hängt ihre Wut nahtlos jetzt an Themen von Klima, Sparpolitik und Systemzusammenbruch. Das wird jetzt schon in den sozialen Medien und den ersten Protesten diskutiert.
Könnte es wider Erwarten auch ruhig bleiben?
Wir können die These prüfen, ob die Wut ausbleibt. Dafür spricht etwa, dass der Herbst und Winter eine solch große Belastung sind, dass viele Menschen erst einmal damit beschäftigt sind, über die Runden zu kommen. Das trifft allerdings vor allen Dingen auf Menschen und Gruppen zu, die unter armen und prekären Bedingungen leben. Eine einfache Hypothese, dass Frustration zu Aggression führt, lässt sich nach Forschungslage nicht halten. Wir sehen auf den Demonstrationen aber eher Menschen aus den Mittelschichten, die Zeit und Raum haben, sich mit Kampagnen und ihren politischen Emotionen auseinander zu setzen.
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Die Politik versucht, mit Entlastungspaketen gegenzusteuern. Wirkt das?
Sozialpakete könnten die Wut mindern. Am Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sehen wir aber, dass er durch einfache Sozialpolitik nicht zu bremsen ist. Ob Ressourcen gerecht verteilt sind oder nicht, darüber streiten Gruppen, darüber gibt es massive gesellschaftliche Konflikte. Genau diese Konflikte wollen Populismus und Extremismus so führen, dass am Ende klar ist, dass ihnen beziehungsweise dem „Volk“ alles zusteht. An den Coronaprotesten zeigte sich, dass es schwierig ist, mit Gegenbewegungen aus der Zivilgesellschaft das Protestpotenzial zu brechen.
Erleben wir in Zeiten eines bedrohten Wohlstands eine Rückbesinnung auf nationalistische Ideen?
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Diese Gefahr sehe ich, weil wir in Studien und Analysen der neuen radikalen und extremistischen Milieus gesehen haben, dass die Idee der nationalen Identität und des homogenen Volkes enorm erfolgreich ist. Der Nationalstolz ist das Opium, welches der Extremismus dem Populismus und dieser den Mitläufern – „Wir sind das Volk“ - vermittelt. Angesichts der vielfachen und komplexen Krisen, die nun miteinander verschmelzen, haben einfache Identitätsbilder auch einen besonderen Zauber.