Düsseldorf. Der Kohleausstieg wird vorgezogen, das Symboldorf der Aktivisten aber weggebaggert. Für die Regierungsgrünen ein hausgemaches Problem.

Es dauerte am Dienstagmorgen nicht lange, bis ein toxisches Foto durch die sozialen Netzwerke wirbelte. Es zeigt Mona Neubaur mit gelber Protestschärpe, die Hände entschlossen in die Hüften gestützt, am Rand des Braunkohletagebaus Garzweiler II. Im Hintergrund prangt ein Plakat mit der Aufschrift: „Klima schützen, Dörfer retten.“ Im Herbst 2021 war das.

Im vergangenen Jahr hatte sich die Grünen-Politikerin demonstrativ der Protestkarawane zum Erhalt der Ortschaft Lützerath angeschlossen. Die Verlockung schien wohl zu groß, der politische Preis überschaubar. Zahlreiche Klimabewegungen von „Fridays for Future“ bis „Extinction Rebellion“ hatten das Dorf schließlich zur symbolischen 1,5 Grad-Grenze erklärt. Die Ziele des Pariser Klimaabkommens seien nur einzuhalten, wenn „Lützi bleibt!“, so der Schlachtruf. Sogar prominente Aktivistinnen wie Greta Thunberg bestärkten bei Vor-Ort-Terminen den Widerstandsgeist an der Abraumkante bei Erkelenz.

NRW-Grüne standen lange an der Seite der Klimaaktivisten

Die NRW-Grünen ignorierten lange, dass der Energiekonzern RWE längst alle Bewohner von Lützerath entschädigt hatte und nach zähen Rechtsstreitigkeiten juristisch einwandfrei in der Lage war, die Braunkohle unter dem verwaisten Dorf abzubaggern, um die benachbarten Kraftwerke zu befeuern. Erst mit Bildung der schwarz-grünen Landesregierung schwante einigen Spitzengrünen, dass der naturschutzrechtliche Beginn der „Rodungssaison“ am 1. Oktober für sie zum Moment der Wahrheit werden könnte. Zumal die Ampel in Berlin inzwischen RWE ermuntert, in der Gasmangellage mehr und mehr Kohlestrom zu produzieren.

Vor allem Neubaur wird die Geister nicht mehr los, die sie einst in den Protestcamps gerufen hatte. Seit 100 Tagen ist sie nun NRW-Wirtschaftsministerin, und seit Dienstagmorgen steht fest, dass sie persönlich das Unvermeidliche verantworten muss. Der Kohleausstieg wird zwar trotz Energiekrise von 2038 auf 2030 vorgezogen, zahlreiche Ortschaften im Rheinischen Revier können gerettet werden, 280 Millionen Tonne Braunkohle bleiben in der Erde, aber: Lützerath verschwindet.

Gutachten ergaben: Insellage von Lützerath ist nicht machbar

Unabhängige Gutachten seien zu dem Schluss gekommen, „dass eine Landzunge oder eine Insellage der Siedlung Lützerath nicht zu rechtfertigen ist“, erklärte Neubaur. Sie verwies auf die Energiesicherheit „in diesem und dem nächsten Winter“. Wochenlang hatte Neubaur mit Experten und RWE-Vertretern ausgelotet, ob die Quadratur des Kreises nicht doch noch irgendwie hinzubekommen sei: Kurzfristig mehr Kohlestrom produzieren, dennoch früher aus der Kohleverstromung aussteigen, Lützerath retten, zugleich Umwelt-, Unternehmens- und Versorgungsinteressen wahren. Vergeblich.

Nun stecken die NRW-Grünen in einer Glaubwürdigkeitsfalle, deren Auswirkungen auf die neue schwarz-grüne Landesregierung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) noch gar nicht zu ermessen sind. Die für die Öko-Partei wichtige Umweltorganisation BUND erhob umgehend den Vorwurf, Lützerath werde „geopfert“. Der Parteinachwuchs hat sogar angekündigt, an der Seite der Protestcamp-Bewohner gegen die eigene Landesregierung zu demonstrieren: „Die Entscheidung über Lützerath zerstört den sozialen Frieden in der Region und ist klimapolitisch fatal“, erklärte Rênas Sahin, Co-Landessprecher der Grünen Jugend.

Im Netz wird bereits mobil gemacht gegen die Räumung

Im Netz wird bereits mobil gemacht gegen die Lützerath-Räumung wie 2018 am Hambacher Forst, als der größte Polizeieinsatz der Landesgeschichte in einem Debakel endete und das Waldstück im Rheinischen Revier stehen blieb. 9500 Menschen haben bereits angekündigt, sich den RWE-Räumkommandos in den Weg zu stellen. Zuletzt gaben eine Demonstration vor Neubaurs Ministerium und die Besetzung grüner Geschäftsstellen eine leise Vorahnung, wie ungemütlich es erneut werden dürfte.

Auch interessant

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, ein Vertrauter Neubaurs, bemühte sich am Dienstag um Deeskalation: „Dass eine Bewegung auch immer Orte braucht, an denen sich ein Protest oder ein Widerstand oder ein Zeichen entfalten kann, ist völlig unstrittig. Der Tag heute allerdings sagt, dass dieser Ort aus meiner Sicht nicht mehr das Braunkohlerevier in Nordrhein-Westfalen ist.“ Die Spitze der NRW-Grünen schloss demonstrativ die Reihen: „Es ist ein enormer Erfolg, dass der Kohleausstieg in NRW trotz der aktuellen Energiekrise acht Jahre früher als bisher gesetzlich vorgesehen gelingt“, hieß es in einer Erklärung von Landespartei und Landtagsfraktion. Dass Lützerath nicht gerettet werden könne, „da ansonsten unter anderem die Standsicherheit des Tagebaus und die Versorgungssicherheit gefährdet wären“, wurde dabei als „schmerzliches Ergebnis“ hingenommen.

"RWE macht da nichts alleine"

Unklar ist, wie schnell jetzt Fakten geschaffen werden. „RWE macht da nichts alleine, am Ende machen wir das mit der Landesregierung gemeinsam. Was vor Ort passiert, ist schwer vorhersehbar“, sagte RWE-Chef Markus Krebber. „Es geht ja nicht um einzelne Dörfer, die nicht mehr bewohnt sind, sondern um die Menge an CO2-Emissionen primär“, argumentierte Krebber. Protest sei akzeptabel, „aber es sollte in jedem Fall immer friedlich und nach rechtstaatlichen Grundsätzen ablaufen“.

Ohne massiven Polizeischutz dürfte es Konzernmitarbeitern kaum möglich sein, Lützerath bereit zu machen für die riesigen Abraumbagger. Plötzlich sind damit auch Innenminister Herbert Reul und Ministerpräsident Hendrik Wüst (beide CDU) wieder gefordert, die bislang Neubaurs Verhandlungen mit RWE nach außen recht teilnahmslos verfolgten. Die Zeit des schwarz-grünen Honeymoons könnte schnell vorbei sein.

Hat Neubaur der Klimabewegung falsche Hoffnungen gemacht?

André Stinka, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Opposition im Landtag, warf Neubaur vor, der Klimabewegung „zu lange falsche Versprechungen gemacht“ zu haben. „Jetzt muss sie alles daran setzen, den Konflikt zu befrieden“, so Stinka. Die NRW-Wirtschaftsministerin weiß offenbar, was die Stunde geschlagen hat. Sie wurde am Dienstag ziemlich grundsätzlich: „Ich bin in dieses Amt gegangen in der Bereitschaft, Verantwortung dafür zu übernehmen, in Abwägungsprozessen das Bestmögliche für den Klimaschutz rauszuholen.“ Wird diese Kunst des Kompromisses honoriert?